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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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»Sie armes, armes Kind.«
    Und dann stand Henry auf und ging nach drüben, und an viel mehr erinnerte er sich nicht, nur an die winzig kleine Stimme von Denise und daran, dass er ein paar Sätze mit ihrem Schwiegervater sprach.
     
    Die Beerdigung fand in der Kirche Unserer Lieben Frau von der Buße statt, in Henry Thibodeaus Heimatort drei Autostunden entfernt. Die Kirche war groß und düster, mit riesigen Buntglasfenstern, der Priester in seinem reichgefältelten weißen Gewand schwenkte Weihrauch hin und her. Denise saß schon vorne bei ihren Eltern und Brüdern, als Olive und Henry ankamen. Der Sarg war zu, er war bei der Totenwache am Vorabend geschlossen worden. Die Kirche war fast voll. Henry, der mit Olive weit hinten saß, erkannte niemanden, bis er die Nähe einer großen, stummen Gestalt spürte, und als er aufsah, stand da Jerry McCarthy. Henry und Olive rückten, um ihm Platz zu machen.
    Jerry flüsterte: »Ich hab’s in der Zeitung gelesen«, und Henry legte ganz kurz die Hand auf sein fettes Knie.
    Der Gottesdienst wollte nicht aufhören, auf Bibellesungen folgten andere Lesungen und dann die aufwendigen Vorkehrungen für die Kommunion. Der Priester nahm Tücher und faltete sie auseinander und breitete sie über einen Tisch, und dann erhoben sich die Leute Reihe um Reihe aus ihren Bänken und traten nach vorn und knieten sich hin und ließen sich eine Oblate in den Mund schieben, und alle tranken aus demselben großen Silberkelch, nur Henry und Olive blieben an ihren Plätzen. Trotz des Gefühls der Unwirklichkeit, das sich Henrys bemächtigt hatte, vermerkte er es bei sich doch als unhygienisch, dass all diese Leute aus ein und demselben Kelch tranken, und er vermerkte auch - nicht ohne Zynismus
-, wie der Priester, nachdem alle abgefertigt waren, seinen Raubvogelkopf in den Nacken legte und den ganzen Rest in sich hineinschüttete.
    Sechs junge Männer trugen den Sarg durch den Mittelgang hinaus. Olive stieß Henry mit dem Ellbogen an, und er nickte. Einer der Sargträger - einer der beiden hintersten - hatte ein so kalkweißes, starres Gesicht, dass Henry Angst bekam, er könnte den Sarg fallenlassen. Das war Tony Kuzio, der nur wenige Tage zuvor das Gewehr angelegt und seinen besten Freund erschossen hatte, weil er im Morgendunkel dachte, Henry Thibodeau sei ein Hirsch.
     
    Wen gab es, der ihr helfen konnte? Ihr Vater lebte im Norden von Vermont mit einer Frau, die Invalidin war, ihre Brüder und deren Frauen wohnten viele Stunden entfernt, ihre Schwiegereltern waren starr vor Kummer. Sie blieb zwei Wochen bei den Schwiegereltern, und als sie wieder zur Arbeit kam, sagte sie Henry, dass sie bald dort wegmüsse; sie seien lieb und nett, aber sie hörte ihre Schwiegermutter die ganze Nacht weinen, es mache sie ganz krank. Sie müsse für sich sein, um allein weinen zu können.
    »Völlig verständlich, Denise.«
    »Aber zurück in den Trailer, das kann ich nicht.«
    »Nein.«
    In dieser Nacht setzte er sich im Bett auf und stützte das Kinn in die Hände. »Olive«, sagte er, »das Mädchen ist vollkommen hilflos. Sie kann nicht Auto fahren, sie hat in ihrem Leben noch keinen Scheck ausgestellt.«
    »Wie schafft man es«, sagte Olive, »in Vermont aufzuwachsen und nicht Auto fahren zu können?«
    »Weiß auch nicht«, gab Henry zu. »Ich hatte keine Ahnung, dass sie nicht Auto fahren kann.«
    »Wenigstens ist mir jetzt klar, wieso Henry sie geheiratet
hat. Ich konnte es mir erst nicht erklären. Aber als ich dann bei der Beerdigung seine Mutter gesehen habe - gut, armes Ding. Aber sie scheint so gar keinen Pep zu haben.«
    »Nun ja, sie ist völlig gebrochen vor Trauer.«
    »Sicher, das verstehe ich«, sagte Olive geduldig. »Ich sage dir lediglich, dass er seine Mutter geheiratet hat. Wie die meisten Männer.« Nach einer Pause: »Außer dir.«
    »Sie muss Auto fahren lernen«, sagte Henry. »Das ist das Allerwichtigste. Und sie braucht eine Wohnung.«
    »Meld sie in der Fahrschule an.«
    Stattdessen übte er mit ihr in seinem Wagen auf unasphaltierten Nebenstraßen. Inzwischen lag Schnee, aber auf den Wegen zum Wasser hinunter hatten die Pick-ups der Fischer ihn glatt gewalzt. »So ist’s recht. Ganz langsam die Kupplung rauslassen.« Der Wagen bockte wie ein wildes Pferd, und Henry stemmte die Hand ans Armaturenbrett.
    »Es tut mir leid«, flüsterte Denise.
    »Nein, nein. Das wird schon.«
    »Ich hab einfach Angst. So was Dummes.«
    »Weil es ganz neu für Sie ist. Aber, Denise, jeder

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