Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
sie könnte ein Kind bekommen. Ein kleines Mädchen, das ihn vergöttern würde; alle Töchter vergötterten ihren Vater.
»Na, Witwentröster, wie geht’s ihr?«, fragte Olives Stimme aus der Dunkelheit des Bettes.
»Es ist ein ziemlicher Kampf für sie«, sagte er.
»Für wen ist es das nicht?«
Am nächsten Morgen arbeiteten er und Denise in schweigender Verbundenheit. Auch wenn sie vorn an der Kasse war und er hinten an seiner Theke, spürte er sie unsichtbar ganz nahe, als wäre sie Slippers geworden, oder auch er, und ihre Seelen streiften aneinander entlang. Am Ende dieses Tages sagte er: »Ich kümmer mich schon um Sie«, und seine Stimme war belegt vor Ergriffenheit.
Sie stand vor ihm und nickte. Er zog den Reißverschluss ihrer Jacke für sie zu.
Bis heute weiß er nicht, was er sich damals dachte. Überhaupt ist ihm vieles nur undeutlich in Erinnerung. Tony Kuzios Besuche bei ihr. Dem sie sagte, dass er verheiratet bleiben müsse, denn wenn er einmal geschieden sei, könne er nie wieder kirchlich heiraten. Die bohrende Eifersucht und Wut, die ihn packten, wenn er sich vorstellte, wie Tony spätnachts in Denises kleiner Wohnung saß und sie um Vergebung anflehte. Dieses Gefühl, in Spinnweben zu ersticken, deren klebriges Netz ihn immer enger einschnürte. Sein Wunsch, Denise möge nicht aufhören, ihn zu lieben. Denn sie liebte ihn. Er sah es in ihren Augen, als ihr der rote Fäustling herunterfiel und er sich danach bückte und ihn für sie aufspreizte. In meinem Kopf red ich andauernd mit Ihnen. Der Schmerz war haarfein, schneidend, nicht zu ertragen.
»Denise«, sagte er eines Abends beim Abschließen. »Sie müssen Freunde finden.«
Sie wurde glühend rot. Mit eckigen Bewegungen zog sie ihre Jacke über. »Ich hab Freunde«, sagte sie dünn.
»Selbstverständlich haben Sie das. Aber ich meine hier, in der Stadt.« Er wartete an der Tür, bis sie ihre Handtasche aus dem Lager geholt hatte. »Sie könnten in die Grange Hall zum Square Dance gehen. Da waren Olive und ich früher manchmal. Nette Leute dort.«
Sie schob sich an ihm vorbei, ihr Gesicht war feucht. Sein Blick streifte über ihren Scheitel. »Oder ist Ihnen so was zu spießig?«, fragte er lahm, als sie auf dem Parkplatz standen.
»Ich bin spießig«, sagte sie leise.
»Ja«, sagte er ebenso leise, »ich auch.« Als er durch die Dunkelheit nach Hause fuhr, stellte er sich vor, er wäre es, der mit Denise zum Tanzen ging. »Partnerin drehn und vorwärts
gehn«, und auf Denises Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, ihre Fußspitze klopfte auf den Boden, ihre kleinen Hände lagen auf den Hüften … Nein - es war nicht zu ertragen, und ihm wurde angst und bange vor ihrem Zorn, den er so plötzlich zu spüren bekommen hatte. Er konnte ihr nicht helfen. Er konnte sie nicht in die Arme nehmen, konnte nicht ihre feuchte Stirn küssen, konnte nicht neben ihr schlafen, neben diesem kleinen Mädchen in dem dicken Flanellschlafanzug, in dem er sie in der Nacht gesehen hatte, in der Slippers starb. Olive zu verlassen war so undenkbar für ihn, wie sich das eigene Bein abzusägen. Ganz abgesehen davon, dass Denise bestimmt keinen geschiedenen Protestanten wollen würde - so wenig, wie er selbst mit ihrem Katholizismus zu Rande käme.
Sie sprachen nur das Nötigste, während die Tage dahingingen. Eine unnachgiebige Kälte schlug ihm jetzt von ihr entgegen, eine Kälte, die ihn anklagte. Was hatte er für Erwartungen bei ihr geweckt? Aber sobald sie einen Besuch von Tony Kuzio erwähnte oder einen Film, den sie in Portland gesehen hatte, merkte er, wie in ihm eine mindestens ebenso große Kälte aufstieg. Er musste die Kiefer zusammenbeißen, um nicht zu sagen: »Aber zu spießig sein, um zum Square Dance zu gehen!« Was sich neckt, liebt sich, schoss ihm durch den Kopf, und er hasste sich dafür.
Dann wieder sagte sie völlig unvermittelt - nach außen hin zu Jerry McCarthy, dessen dicker Leib seit einiger Zeit eine ganz neue Würde ausstrahlte, wenn er dasaß und lauschte, aber in Wahrheit zu Henry (das sah er an der Art, wie sie zu ihm herüberspähte und nervös die kleinen Hände ineinanderschlang): »Als ich ganz klein war, bevor meine Mutter krank wurde, da hat sie zu Weihnachten immer diese besonderen Plätzchen gebacken. Wir haben sie mit Zuckerguss und Liebesperlen verziert. Ach, manchmal denke ich, so viel Spaß hatte ich seitdem nie wieder …«, und ihre Stimme schwankte,
und die Augen hinter den Brillengläsern blinzelten.
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