Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
trotzdem in ihrem Schlafzimmer gesessen und geheult wie ein Schlosshund, nicht um ihr Land, sondern um die Stadt selbst, die für sie plötzlich kein fremder, brutaler Ort mehr war, sondern ihr verletzlich vorkam, wie eine Klasse von Vorschulkindern, so tapfer in ihrer Todesangst. Aus den Fenstern gesprungen - das Herz zog sich ihr zusammen, und es hatte sie bis ins Innerste beschämt, als sie erfuhr, dass zwei der schwarzbärtigen Flugzeugentführer, geschwellt von stummem, selbstgerechtem Triumph, über Kanada eingereist und durch den Flughafen von Portland spaziert waren auf dem Weg zu ihrem grausigen Zerstörungswerk. (Vielleicht war sie an jenem Morgen ja sogar an ihnen vorbeigefahren, wer konnte es wissen?)
Aber die Zeit verging, wie auch nicht, und die Stadt (zumindest
für Olive aus ihrer Entfernung) wurde nach und nach wieder die Alte, kein Ort, zu dem es sie hinzog, trotz der Tatsache, dass seit kurzem ihr einziger Sohn dort lebte, mit einer neuen Frau und zwei Kindern, die nicht von ihm waren. Ann hieß die neue Frau, und nach dem einen Foto zu urteilen, das herunterzuladen eine halbe Ewigkeit gedauert hatte, war sie so groß und so breit wie ein Mann. Sie war außerdem schwanger mit Christophers Kind und, so Chris in einer seiner kryptischen E-Mails ohne Kommas oder Großbuchstaben, müde und »schwer am kotzen«. Dazu führte offenbar Theodore jeden Morgen einen fürchterlichen Terz auf, bevor er in den Kindergarten gebracht werden konnte. Olive sollte kommen und helfen.
Ganz so war das nicht formuliert worden. Nachdem er die Mail geschickt hatte, rief Christopher von seiner Praxis aus an und sagte: »Ann und ich haben gedacht, du könntest uns vielleicht ein paar Wochen besuchen.« Für Olive hieß das, sie brauchten Hilfe. Es war Jahre her, dass sie ein paar Wochen mit ihrem Sohn verbracht hatte.
»Drei Tage«, sagte sie. »Nach drei Tagen fange ich zu stinken an wie Fisch.«
»Dann eben eine Woche«, hielt Christopher dagegen und fügte hinzu: »Du könntest Theodore in den Kindergarten bringen. Das ist gleich um die Ecke von uns.«
Sonst noch Wünsche, dachte sie. Ihre Tulpen, die sie durchs Esszimmerfenster direkt im Blick hatte, flammende Kelche von Gelb und Rot, würden verblüht sein, bis sie zurückkam. »Gib mir ein paar Tage Zeit für die Vorbereitungen«, sagte sie. Die Vorbereitungen dauerten zwanzig Minuten. Sie rief Emily Buck im Postamt an und bat sie, ihre Briefe aufzubewahren.
»Ach, das wird Ihnen guttun, Olive«, sagte Emily.
»Ah-ja?«, sagte Olive. »Schön wär’s.«
Dann rief sie Daisy ein paar Häuser weiter an und fragte sie, ob sie den Garten gießen und den Hund nehmen könnte. Daisy (die - da war Olive sicher - heimlich davon geträumt hatte, ihr Witwendasein mit Henry Kitteridge zu verleben, wenn nur Olive rechtzeitig abtrat) war sehr gern dazu bereit. »Henry hat sich immer so lieb um meinen Garten gekümmert, wenn ich Mutter besucht habe«, sagte Daisy. Und sie fügte hinzu: »Das wird dir guttun, Olive. Da hast du mal ein bisschen Spaß.«
Spaß gehörte nicht zu den Dingen, die Olive für sich noch in Betracht zog.
Am Nachmittag fuhr sie ins Pflegeheim und erklärte Henry, was sie vorhatte, während er reglos in seinem Rollstuhl saß, im Gesicht diesen Ausdruck wohlerzogener Verwirrung, den er so oft hatte - als hätte ihm jemand einen Gegenstand auf den Schoß gelegt, den er nicht einordnen konnte, der ihm aber trotzdem einen höflichen Dank abzuverlangen schien. Ob er taub war oder nicht, darüber gingen die Meinungen noch auseinander. Olive glaubte es nicht, genauso wenig wie Cindy, die einzige nette Schwester. Olive gab Cindy die Nummer in New York.
»Ist sie nett, die Neue?« Cindy verteilte die Tabletten auf ihre Becherchen.
»Ich hab keine Ahnung«, sagte Olive.
»Na, Hauptsache fruchtbar«, sagte Cindy und nahm das Tablett mit den Medikamenten vom Tisch.
Olive war noch nie allein geflogen. Natürlich flog sie auch jetzt nicht allein, es saßen noch vier andere Passagiere mit ihr in dem Flugzeug, das halb so groß wie ein Greyhound-Bus war. Alle waren sie so seelenruhig wie Kühe durch die Sicherheitskontrolle getrottet; Olive schien als Einziger beklommen zumute zu sein. Sie hatte ihre Wildledersandalen ausziehen
müssen, auch die große Timex-Uhr von Henry, die sie um ihr dickes Handgelenk trug. Es hatte etwas seltsam Intimes gehabt, so dazustehen, strumpfsockig, voller Besorgnis, der Uhr könne beim Röntgen etwas zustoßen, und eine
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