Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
einmal.
»Spazieren, glaub ich«, sagte Winnie.
»Pech, wir essen gleich«, sagte ihre Mutter, und Winnie wäre beinahe in Tränen ausgebrochen.
Onkel Kyle hatte einmal erzählt, wie er mit einem Zug gefahren war, der ein junges Mädchen erfasste und tötete. Er würde nie vergessen, hatte er gesagt, wie er im Abteil saß und aus dem Fenster starrte, während sie auf die Polizei warteten, und an die Eltern des Mädchens dachte, die jetzt wahrscheinlich noch zu Hause waren, die fernschauten oder den Abwasch machten und nicht ahnten, dass ihre Tochter tot war, und er saß hier und wusste es.
»Ich geh sie suchen«, sagte Winnie. Sie wusch sich die Hände, trocknete sie ab.
Anita warf einen Blick auf die Uhr und wendete das Steak. »Ruf sie nur kurz«, sagte sie. »Hinten bei den Büschen.«
Winnie öffnete die Hintertür und ging hinaus. Die Wolken drängten heran. Die Luft hatte abgekühlt und roch nach Meer. Ihr Vater trat auf die Veranda. »Essen ist fertig, Winnie.« Winnie zupfte an den Blättern eines Lorbeerbusches. »Sieht irgendwie einsam aus hier draußen«, sagte er.
In der Küche klingelte das Telefon. Ihr Vater ging wieder hinein, und Winnie folgte ihm, aber nur bis zum Flur.
»Ja, hallo, Kyle«, sagte ihre Mutter.
Am Nachmittag fing es zu regnen an. Im Haus wurde es finster, und der Regen trommelte auf das Dach und an die große Fensterscheibe im Wohnzimmer. Winnie saß auf einem Stuhl und schaute hinaus aufs Meer, das unruhig und grau
war. Onkel Kyle war in Moodys Laden gegangen, um sich eine Zeitung zu kaufen, und er hatte Julie hinten in dem abfahrenden Bus sitzen sehen. Anita war ins Kinderzimmer gestürzt und hatte wie wild alles auseinandergerupft. Julies Matchbeutel fehlte, dazu fast ihre gesamte Unterwäsche und das Make-up. Anita fand den Zettel, den Julie Winnie hingelegt hatte. »Du hast es gewusst «, sagte sie zu Winnie, und Winnie begriff, dass etwas für alle Zeit anders geworden war, etwas, das nicht nur mit Julies Davonlaufen zu tun hatte. Onkel Kyle war vorbeigekommen, aber jetzt war er wieder weg.
Winnie saß mit ihrem Vater im Wohnzimmer. Sie musste immerfort an Julie denken, wie sie im Bus durch den Regen fuhr und hinaus auf die Fahrbahn starrte, die unter dem Fenster vorbeizog. Wahrscheinlich sah ihr Vater das Gleiche vor sich, wahrscheinlich hörte auch er das rhythmische Geräusch, mit dem die Scheibenwischer des Busses hin- und herschrappten.
»Was machst du eigentlich, wenn du mit dem Boot fertig bist?«, fragte Winnie.
Ihr Vater schaute verdutzt. »Hm«, sagte er. »Weiß nicht. Auf große Fahrt gehen, schätze ich.«
Winnie lächelte, um ihn nicht zu kränken; sie konnte sich nicht vorstellen, dass er irgendwo hinfuhr. »Das wird sicher toll«, sagte sie.
Gegen Abend hörte es auf zu regnen. Anita war nicht aus ihrem Zimmer gekommen. Winnie versuchte auszurechnen, ob Julie schon angekommen war; sie wusste nicht, wie lange man nach Boston brauchte, aber es dauerte sicher sehr lang.
»Hat sie denn irgendwelches Geld dabei?«, fragte ihr Vater, aber Winnie antwortete nicht - sie wusste es nicht.
Regen tropfte von der Dachkante und von den Bäumen. Sie dachte an die Seesterne, die sie auf dem Felsblock ausgelegt
hatte und die jetzt alle durchweicht waren. Nach einer Weile stand ihr Vater auf und trat ans Fenster. »So hatte ich mir das nicht vorgestellt«, sagte er, und Winnie sah ihn plötzlich bei seiner eigenen Hochzeit vor sich. Anders als für Anita war es für ihn die erste Ehe gewesen. Anita hatte nicht in Weiß geheiratet, wegen Julie. »Weiß trägt man nur einmal«, hatte Anita gesagt. Es gab keine Hochzeitsfotos - jedenfalls kannte Winnie keine -, nicht ein Bild von ihren Eltern als Brautpaar.
Ihr Vater drehte sich um. »Pfannkuchen?«, fragte er sie.
Winnie war nicht nach Pfannkuchen. »Ist gut«, sagte sie.
Sicherheit
Es war Mai, und Olive Kitteridge fuhr nach New York. Sie hatte nie auch nur einen Fuß in die Stadt gesetzt, in ihren ganzen zweiundsiebzig Jahren nicht, nur mit dem Auto war sie vor ewigen Zeiten zweimal daran vorbeigefahren (auf dem Beifahrersitz, während Henry am Steuer nervös die Ausfahrten mitzählte) und hatte aus der Entfernung die Skyline gesehen, Gebäude vor noch mehr Gebäuden, grau vor einem grauen Himmel. Wie eine Science-Fiction-Stadt war es ihr vorgekommen, auf dem Mond erbaut. Es besaß keinerlei Reiz für Olive, damals so wenig wie heute - aber als dann die Flugzeuge in die Türme gerast waren, hatte sie
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