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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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eben. Erst dachte ich, sie würde über Essen reden. Ich meine, wir waren kleine Siebtklässler -’tschuldige, Maus -, aber so langsam habe ich das Gefühl, ich versteh’s ein bisschen besser.«
    »Sie ist aber doch Mathelehrerin«, sagte Winnie.
    »Das weiß ich auch, Dummerle. Aber sie hat immer diese sonderbaren Sachen gesagt, mit ungeheurem Nachdruck. Das war auch ein Grund, warum die Kinder Angst vor ihr hatten. Du brauchst keine Angst vor ihr zu haben - wenn sie nächstes Jahr überhaupt noch unterrichtet.«
    »Hab ich aber. Sie ist unheimlich.«
    Julie sah sie von der Seite an. »Was hier in diesem Haus passiert, ist noch viel unheimlicher.«
    Winnie runzelte die Stirn, schlug auf das Kissen, das ihr am nächsten lag.

    »Ach, Winnie«, sagte Julie. »Komm her.« Sie breitete die Arme aus. Winnie rührte sich nicht. »Armes Winnie-Mäuschen«, sagte Julie, und sie rutschte zu Winnies Platz am Fußende und umarmte sie ungeschickt, die Hände abgespreizt, damit der Nagellack nicht verwischte. Sie gab Winnie einen Kuss auf die Schläfe und ließ sie dann los.
     
    Am Morgen waren Anitas Augen verquollen, als hätte der viele Schlaf sie erschöpft. Aber sie trank in kleinen Schlucken ihren Kaffee und sagte munter: »Mann, hab ich fest geschlafen.«
    »Ich mag heute nicht mit in die Kirche gehen«, sagte Julie. »Ich hab noch nicht den Nerv, diesen ganzen Leuten unter die Augen zu treten.«
    Winnie erwartete, dass es deswegen Streit geben würde, aber nichts passierte. »Na gut«, sagte Anita nach kurzem Überlegen. »Von mir aus, Schätzchen. Wenn du nur nicht rumsitzt und Trübsal bläst, solange wir weg sind.«
    Julie stapelte das Frühstücksgeschirr in die Spüle. Ihre rosa Nägel schimmerten. »Keine Sorge«, sagte sie.
    Im Flur sagte Jim zu Winnie: »Komm her, Mausespatz, drück deinen alten Vater mal kurz«, aber Winnie schob sich an ihm vorbei, tätschelte nur flüchtig den Arm, den er nach ihr ausstreckte, und dann ging sie sich für die Kirche umziehen. In der Kirche klebte ihr Kleid an der Bank. Es war ein heißer Sommertag; die Kirchenfenster standen offen, aber es kam kein Luftzug herein. Durchs Fenster sah Winnie ein paar ferne dunkle Wolken. Neben ihr hörte sie den Magen ihres Vaters knurren. Er schaute sie an und zwinkerte ihr zu, aber Winnie wandte sich wieder zum Fenster. Sie musste daran denken, wie sie sich vorhin an ihm vorbeigeschoben hatte, als er von ihr gedrückt werden wollte, genau, wie sie es immer bei ihrer Mutter sah, nur dass Anita ihn dazu manchmal an
den Schultern fasste und die Luft neben seiner Backe küsste. Vielleicht hatte Julie ja recht, sie war Mamas kleiner Liebling und würde einmal genauso werden wie sie, ein Mensch, der sich an den Leuten vorbeischob, auch wenn er lächelte dabei; vielleicht würde sie mit dem Gewehr in der Einfahrt stehen, wenn sie groß war, und auf andere Leute schießen.
    Müde erhob sie sich mit den anderen zum Singen. Ihre Mutter zupfte ihr die Rockfalten glatt.
     
    Auf Winnies Bett lag ein zusammengefalteter Zettel: »BITTE sag ihnen, dass ich spazieren bin. Ich bin zu Moodys rauf und nehme den Bus. So kann ich nicht weiterleben. Ich hab dich lieb, Mäuschen.« Ein heißes Kribbeln schoss Winnie durch die Arme bis in die Fingerspitzen; selbst in ihrer Nase und am Kinn kribbelte es.
    »Winnifred«, rief ihre Mutter. »Komm und schäl die Kartoffeln, bitte.«
    Der Bus nach Boston fuhr um halb zwölf vor Moodys Laden ab. Julie war also noch da, auch wenn sie sich bestimmt möglichst unsichtbar machte; vielleicht saß sie hinter dem Laden im Gras. Sie konnten hinfahren und sie zurückholen. Sie würde weinen, und es würde einen Mordskrach geben, aber noch konnten sie es machen, noch war sie da.
    »Winnifred?«, rief Anita noch einmal.
    Winnie zog ihre Kirchenkleider aus, löste den Pferdeschwanz, so dass ihr das Haar vors Gesicht fallen würde.
    »Ist irgendwas?«, fragte Anita.
    »Mir tut der Kopf weh.« Winnie trottete nach unten und holte ein paar Kartoffeln aus der Kiste unter dem Spülbecken.
    »Du musst einfach was in den Magen bekommen«, sagte ihre Mutter. »Wo ist deine Schwester? Sie hätte ja wenigstens schon mal die Kartoffeln aufsetzen können.« Anita legte das Sonntagssteak in die Grillpfanne.

    Winnie wusch die Kartoffeln und fing an, sie zu schälen. Sie füllte einen Topf mit Wasser, schnitt die Kartoffeln klein und ließ sie in den Topf platschen. Sie schaute auf die Uhr über dem Herd.
    »Wo ist sie?«, fragte Anita noch

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