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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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abgefahren, das ist alles.« Sie legte den Finger um den Abzug. »Die ist seit Jahren nicht mehr benutzt worden«, sagte sie. »Ich glaube, sie klemmt. Klemmen diese Dinger nicht manchmal?«
    »Mom«, sagte Winnie, und ein scharfes, kurzes Krachen ertönte, und der Kies in der Einfahrt spritzte. Julie schrie auf, und Anita schrie auch auf, aber bei ihr klang es eher überrascht, während Julies Schreien gar nicht mehr aufhören wollte.
    Anita hielt das Gewehr von sich weg. »Hoppla«, sagte sie. Julie rannte schreiend zum Haus. Anita rieb sich den Arm.
    »Mommy«, sagte Winnie. »Ist alles in Ordnung?«
    »Ach, Herzchen«, antwortete sie und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Wenn ich das so genau sagen könnte.«
     
    Dieses Mal nahm Anita eine Tablette. Winnie sah, wie sie an der Spüle stand und gehorsam schluckte, als Onkel Kyle es ihr befahl, und dann legte sie sich ins Bett. Onkel Kyle fragte Julie, ob Bruce der Typ Mensch war, der Anzeige erstatten würde, und Julie und Jim sagten beide nein, und dann fragte Julie Jim, ob sie Bruce nachher auf seinem Handy anrufen dürfte, nur um sicherzugehen, und Jim sagte, ja, nur zu, Anita würde wahrscheinlich bis zum nächsten Morgen durchschlafen.
    Winnie ging zur Hintertür hinaus und ums Haus herum, wo Farn und Lilienblätter direkt aus dem Sockel zu wachsen schienen, und sie lugte ins Elternschlafzimmerfenster. Anita lag auf der Seite, beide Hände unter die Wange geschmiegt, die Augen zu, die Lippen halb geöffnet. Sie kam Winnie fleischiger vor als normal; ihre Oberarme und die bloßen Fußgelenke waren weiß und dicker, als Winnie es jemals vorher bemerkt hatte. Es war etwas Verstörendes an dem Anblick, so als würde Winnie ihre Mutter nackt sehen. Sie lief zum
Strand hinunter und sammelte ein paar Seesterne und legte sie zum Trocknen auf einen großen Steinblock, wo die Flut nicht hinkam.
     
    Die Sonne versank im Wasser. Winnie schaute ihr vom Fenster aus zu. Es sah aus wie auf den Postkarten in Moodys Laden. Auf ihrem Bett saß Julie und lackierte sich die Fingernägel. Sie hatte Bruce gesprochen, der auf dem Rückweg nach Boston war, und nein, er wollte keine Anzeige erstatten. Aber er hatte gesagt, für ihn sei Anita - und Julie flüsterte es, den Oberkörper vorgereckt - total krank im Kopf .
    »So was sagt man nicht«, sagte Winnie. Sie spürte, wie sie rot wurde.
    »Ach, Kindchen.« Julie lehnte sich wieder zurück. »Wenn du hier rauskommst«, sagte sie, »falls du jemals hier rauskommst, wirst du feststellen, dass nicht alle Leute so leben.«
    »Wie?«, fragte Winnie und setzte sich ans Fußende. »Dass nicht alle Leute wie leben?«
    Julie lächelte ihr zu. »Fangen wir mal beim Klo an«, sagte sie. Sie hielt einen rosa Fingernagel hoch und pustete sanft darauf. »Andere Leute haben richtige Klos, weißt du, Winnie, mit Wasserspülung. Und dann das mit dem Schießen. Die meisten Mütter stehen nicht in der Einfahrt und schießen auf die Freunde ihrer Töchter.«
    »Das weiß ich selber«, sagte Winnie. »Ich muss nicht von hier weggehen, um das zu wissen. Wir hätten auch ein Klo mit Wasserspülung, nur sagt Daddy, ein Klärbehälter …«
    »Ich weiß, was Daddy sagt«, gab Julie zurück und schraubte vorsichtig den Deckel auf den Nagellack, die Finger gespreizt. »Aber der eigentliche Grund ist Mom. Sie will um jeden Preis in diesem Haus wohnen bleiben, weil ihr armer, sagenumwobener dahingegangener Vater es gekauft hat, als ich unterwegs war und Ted keinen Cent in der Tasche hatte.
Wenn es nach Daddy ginge, dann würden wir schon morgen hier ausziehen und in der Stadt wohnen.«
    »Aber es ist doch schön hier«, sagte Winnie.
    Julie lächelte nachsichtig. »Mamas kleiner Liebling.«
    »Stimmt überhaupt nicht.«
    »Ach, Winnie«, sagte Julie. Aber sie sah mit zusammengekniffenen Augen auf ihren kleinen Finger, und dann schraubte sie den Nagellack wieder auf. »Weißt du, was Mrs. Kitteridge in der Schule mal zu uns gesagt hat?« Winnie wartete. »Ich werde nie vergessen, wie sie irgendwann gesagt hat: ›Vor seinem eigenen Hunger darf man nicht weglaufen. Wer vor seinem eigenen Hunger wegläuft, ist auch nur eine Schießbudenfigur wie all die anderen.‹«
    Winnie wartete, während Julie den Nagel an ihrem kleinen Finger liebevoll noch einmal mit dem rosa Lack bestrich. »Niemand wusste, was sie damit meint«, sagte Julie, hielt ihren Nagel in die Höhe und begutachtete ihn.
    »Und was hat sie gemeint?«, fragte Winnie.
    »Na ja, das ist es

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