Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Viertelsekunde lang war ihr Herz dem massigen Sicherheitsbeamten entgegengeflogen, der freundlich sagte: »Hier, bitte, Ma’am«, und ihr die Plastikwanne hinhielt, die mit der Uhr darin aus der Röhre kam. Aber auch die Piloten, die mit ihrer sorgenfreien Stirn beide nicht älter als zwölf aussahen, waren nett gewesen - hatten Olive ganz locker und unverkrampft gebeten, sich nach hinten zu setzen, damit das Gewicht sich besser verteilte. Als die zwei in ihr Cockpit kletterten und die Stahltür hinter sich zuzogen, dachte Olive unwillkürlich: Ihre Mütter können stolz auf sie sein.
Und dann, als das kleine Flugzeug höher stieg und sie unter sich Wiesen von hellem, zartem Grün in der Morgensonne ausgebreitet sah und dahinter die Küstenlinie und das Meer, das glänzte und fast völlig glatt war bis auf das winzige weiße Kielwasser einiger Hummerboote, spürte Olive etwas, was sie nicht mehr für möglich gehalten hatte: eine jäh aufbrandende Lebensgier. Sie beugte sich vor, spähte aus dem Fenster. Blasse Wolkentupfer, der Himmel blau wie nur was, und unten das neue Grün der Felder, die weite Wasserfläche - von hier oben betrachtet, schien es alles wundersam, überwältigend, und plötzlich wusste sie wieder, was Hoffnung war: diese innere Bewegung, die einem den nötigen Antrieb gab, um durchs Leben zu kommen, die einen vorwärtsschob, so wie sich die Schiffe dort unten durch das schimmernde Wasser schoben, wie das Flugzeug sich über den Himmel schob zu einem neuen Ort, einem Ort, an dem sie gebraucht wurde. Ihr Sohn wollte, dass sie wieder Teil seines Lebens war.
Aber am Flughafen wirkte Christopher in erster Linie wütend. Sie hatte vergessen, dass es wegen der Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr erlaubt war, Passagiere am Gate abzuholen, und er hatte sie nicht extra daran erinnert. Warum das ihn so wütend machte, begriff Olive nicht ganz. Sie war es doch schließlich, die aufgelöst vor Panik zwischen den Gepäckbändern herumgeirrt war, mit hochrotem Kopf, bis Christopher sie endlich entdeckte, als sie die Treppen schon wieder hinaufschnaufte. »Herrgott noch mal«, sagte er, ohne auch nur nach ihrer Tasche zu greifen. »Warum kannst du dir nicht ein Handy zulegen wie andere Menschen auch?«
Erst eine ganze Weile später, während sie eine vierspurige Stadtautobahn mit mehr Autos entlangbrausten, als Olive je zuvor auf einem Haufen gesehen hatte, fragte Christopher: »Und, wie geht’s ihm?«
»Unverändert«, antwortete sie und schwieg dann, bis sie die Stadtautobahn verlassen hatten und durch Straßen mit uneinheitlicher Bebauung rollten, wo so viele Laster in zweiter Reihe parkten, dass Christopher regelrecht Slalom fahren musste. »Wie geht es Ann?«, fragte Olive dann, wobei sie zum ersten Mal seit Beginn der Fahrt ihre Füße anders hinstellte, und Christopher sagte: »Nicht gerade berauschend.« Und in belehrendem Arzttonfall: »So eine Schwangerschaft ist etwas extrem Beschwerliches«, als wäre ausgeschlossen, dass Olive diese Art von Beschwerden selbst durchgemacht haben könnte. »Und Annabelle schläft nachts nicht mehr durch.«
»Das volle Programm also«, sagte Olive. »Glückwunsch.« Die Häuser waren jetzt niedriger, die Treppenaufgänge steil. Sie sagte: »Und der kleine Teddy ist ja auch nicht ganz einfach, so wie es klingt.«
»Theodore«, verbesserte Christopher sie. »Nenn ihn um Gottes willen nie Teddy.« Er stieg hart auf die Bremse und
stieß rückwärts in eine Parklücke. »Willst du die Wahrheit hören, Mom?« Christopher senkte den Kopf, und seine blauen Augen sahen mitten in ihre, wie früher. Leise sagte er: »Theodore war schon immer eine Pest.«
Die Verwirrung, die in dem Moment eingesetzt hatte, als sie am Gate niemand abholte, die auf der Flughafenrolltreppe dann von Panik abgelöst worden war und im Auto von dem Gefühl, gar nichts mehr zu verstehen - diese Verwir rung schien nun, da Olive ausstieg, alles um sie herum leicht ins Schwanken zu bringen, so dass sie, als sie ihre Tasche vom Rücksitz nehmen wollte, tatsächlich gegen das Auto taumelte. »Vorsicht, Mom«, warnte Christopher. »Ich nehm die Tasche schon. Pass auf, wo du hintrittst.«
»Ach herrje«, sagte sie, denn ihr Fuß war bereits auf einer angekrusteten Hundewurst gelandet, die mitten auf dem Gehsteig lag. »So was Dummes.«
»Ich hasse das«, sagte Christopher. Er fasste sie am Arm. »Das ist dieser Kerl, der in der U-Bahn arbeitet und immer frühmorgens heimkommt. Ich hab ihn schon ein
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