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Mit Blindheit Geschlagen

Mit Blindheit Geschlagen

Titel: Mit Blindheit Geschlagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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    Stachelmann lief gemächlich über die Puppenbrücke und bog rechts ab entlang der Obertrave. Als er seine Wohnung in der Lichten Querstraße betrat, sah er den Anrufbeantworter blinken. Er zeigte zwei Anrufe an. Stachelmann hängte seinen Mantel auf und drückte auf den Wiedergabeknopf. Der erste Anruf war von seiner Mutter, die mit brüchiger Stimme um Rückruf bat. Der zweite Anrufer hatte keine Nachricht hinterlassen, Stachelmann glaubte, jemanden atmen zu hören, bevor es klickte. Das Telefon hatte keine Nummer gespeichert. Er dachte an Ines, aber er würde sie nicht erkennen an ihrem Atmen.
    Er wählte die Nummer seiner Mutter. Sie klang traurig und wollte nur reden. Sie war einsam.
    Nach dem Gespräch durchsuchte er den Kühlschrank und fand ein Stück Käse. Das Brot war etwas trocken, aber zusammen schmeckte es nicht schlecht. Während er aß, überlegte er, ob er den Computer einschalten und nach Mails schauen sollte. Die meisten waren sowieso Werbung für Anrüchiges, also ließ er den PC aus. Nach dem Essen setzte er sich ins Wohnzimmer. Er hätte jetzt gern einen Krimi gesehen, aber da er sich immer noch nicht entschlossen hatte, ein Fernsehgerät zu kaufen, griff er blind in die CD-Sammlung und erwischte ein Vivaldi-Konzert. Er steckte es zurück, wollte nicht erinnert werden an die Beerdigung, und entschied sich für Händels Feuerwerksmusik. Dann setzte er sich aufs Sofa und las weiter im ersten Band von Foresters Hornblower-Romanen. Das Buch kannte er fast auswendig. Wenn ihn einer gefragt hätte, was er gerade lese, hätte er es nicht zugegeben.
    ***
    Als der Gefangene wieder in der Betonhöhle saß, überlegte er, was der Vernehmer wusste. Er konnte kaum denken, die Müdigkeit raubte ihm den Verstand. Helga saß auch. Oder war es eine Finte, um ihn weich zu kochen? Was änderte es für ihn? Er musste dabei bleiben, er war nur spazieren gegangen. Sie konnten ihm nichts beweisen. Und der Brief? War er der einzige, den sie abgefangen hatten? Hatte er andere geschrieben, die ihm schaden konnten? Er wusste es nicht mehr. Er versuchte sich zu erinnern. Nein, er hatte nur diesen Brief in den Westen geschickt. Das erleichterte ihn für kurze Zeit. Aber dann bedrängten ihn neue Fragen. Wie mochte Helga sich fühlen? Hatte sie Angst? Der Gefangene überlegte, ob er Angst hatte. Nein, er konnte nicht glauben, was ihm geschah. Er staunte. Und er war müde, hundemüde. Dann knallte es an der Tür. »Aufstehen!« Er schrak hoch. Jetzt verstand er es, die Wächter schlichen durch den Gang und schlugen mit dem Schlüsselbund gegen die Tür, wenn sie einen beim Blick durch das Guckloch erwischten. Hinlegen durfte man sich erst zur Nachtruhe. Nachtruhe wurde befohlen. Er starrte auf die Linie an der Wand. Und wenn Helga etwas erzählte, weil sie dem Druck nicht standhielt? Er musste bei seiner Aussage bleiben. Auch in diesem Staat brauchte es Beweise, um einen zu bestrafen. Fürs Spazierengehen konnte man einen nicht belangen. Die Klappe ging auf, jemand reichte ihm Brot mit Margarine und zwei dünnen Scheiben Wurst hinein. Dazu gab es einen Becher Tee. Er strich die Margarine mit dem Löffel aufs Brot. Als er gegessen hatte, brüllte einer auf dem Gang: »Fertig machen zur Nachtruhe!« Der Gefangene legte sich auf die Pritsche und zog die Decke über sich. Es drückte im Rücken. Er träumte etwas. Im Traum rüttelte jemand an ihm. Dann brüllte einer: »Aufstehen!«
    Noch einmal: »Aufstehen!« Der Gefangene linste, da stand einer vor ihm und brüllte: »17 rechts! Stehen Sie auf!« Er stand auf und fühlte sich, als müsste er ein Bleigewicht heben. »Gehense!«

5
    Sie rief an, während er frühstückte. »Er ist immer noch nicht da«, sagte Ines. »Er lässt mich hier einfach sitzen. Ich habe Angst, du musst gleich zu mir kommen.«
    Stachelmann überlegte, ob etwas Wichtiges auf ihn wartete am Seminar, und versprach ihr vorbeizuschauen. Er legte auf und blätterte in den Lübecker Nachrichten. Er musste warten, wegen Ines würde sein Zug nicht früher fahren. Dann packte er seine Sachen. Sein Notizbuch mit dem Adressenteil fand er nicht. Es war nicht in der Aktentasche, auch nicht im Jackett. Habe ich es wohl im Dienstzimmer liegen gelassen, dachte er.
    Er ging ein paar Minuten früher los als sonst. Auf der Puppenbrücke erwischte ihn eine nasse Bö von der Seite. Die Kälte fasste unter die Kleidung. Er hätte einen Schal umlegen sollen. Der Zug auf Gleis 9 wartete schon, um 9 Uhr 07

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