Mit Blindheit Geschlagen
würde er losfahren. Stachelmann setzte sich an den Tisch im Großraumabteil der ersten Klasse. Die Klimaanlage heizte auf höchster Stufe, er stand auf und drehte sie auf Mittelstellung. Gleich fing er sich den strafenden Blick einer Frau ein, die in der Ecke saß, mit Mantel, Schal und Hut, als verfolgte sie die Kälte in den Zug.
Stachelmann nahm ein Referat aus der Aktentasche und legte es auf den Tisch. Als er es aufgeschlagen hatte, schloss er die Augen. Was, verdammt, hatte er mit Wolf Griesbach zu tun? Oder mit dessen Verschwinden? Es konnte ihm gleichgültig sein, wo der sich herumtrieb. Ines war hysterisch. Er erinnerte sich an die Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, er hatte sie als beherrscht empfunden bei aller Leidenschaft.
Der Türsummer erklang gleich nach dem Klingeln, als hätte sie gewartet mit dem Daumen auf dem Knopf. Sie öffnete die Tür und ging voraus ins Wohnzimmer, ohne ihn zu begrüßen.
»Was machen wir jetzt?«
Mehr um sie zu beruhigen, sagte er: »Ich ruf jetzt meinen Spezi an.«
Er sah ein schnurloses Telefon auf dem Wohnzimmertisch und wählte die Nummer des Polizeipräsidiums, er hatte sie nicht vergessen. Als abgenommen wurde, bat er, mit Kommissar Winter verbunden zu werden. »Oberkommissar Winter«, sagte der Mann am Telefon.
»Winter.«
Stachelmann spürte den Widerwillen. »Hier Josef …«
»Jossi! Ist ja toll, dass du dich meldest. Ich habe schon ein paarmal daran gedacht. Aber du weißt ja, wie das ist.«
Stachelmann wusste es nicht. »Ich habe hier eine komische Sache. Kannst du helfen?«
»Dir immer«, sagte Ossi. »Was soll ich tun?«
»Komm mal vorbei, bald, wenn es geht.« Er nannte Ines’ Namen und Adresse.
»Bin schon unterwegs.« Er legte auf.
»Danke«, sagte Ines.
Sie schaute Stachelmann in die Augen. »Ich möchte nicht, dass irgendjemand etwas erfährt über uns. Ja?«
Stachelmann nickte. Er brauchte nicht ermahnt zu werden.
Sie warteten schweigend. Ines rauchte und lief im Zimmer auf und ab. Stachelmann machte es nervös, aber er sagte nichts. Dann klingelte es. Ines drückte den Summer und öffnete die Wohnungstür. Stachelmann hörte die schweren Schritte sich nähern. Ossi hatte zugenommen, vor allem an der Hüfte, auch das Gesicht war breiter. Er trug immer noch den roten Backenbart. Er breitete die Arme aus, nachdem er Ines begrüßt hatte. »Na, altes Haus, so sieht man sich wieder.«
Stachelmann streckte ihm die Hand entgegen, entkam aber nicht der Umarmung. Ossi schlug ihm ein paarmal auf den Rücken. Stachelmann roch den Pfefferminz und die Fahne. »Ines, Frau Griesbach möchte dir etwas berichten«, sagte Stachelmann, um die Begrüßung zu beenden.
Ossi grinste kaum sichtbar und setzte sich auf die Lehne des Sofas, als wollte er zeigen, er sei auf dem Sprung, um aufzuklären, was aufzuklären war.
»Mein Mann ist verschwunden.«
Jetzt stand eine Frage in Ossis Gesicht. Er sagte nichts.
»Er ist nach Berlin gefahren«, sagte Stachelmann.
»Ach so«, sagte Ossi. Er klang enttäuscht. »Was glauben Sie, wie viele Leute mal für ein paar Tage verschwinden und dann wieder auftauchen? War er denn schon mal länger weg?«
»Nein, nie«, sagte Ines. »Deswegen bin ich ja so ängstlich. Er ist immer pünktlich, aber er hat einen Banktermin verpasst.«
»War der wichtig?«
»Es ging um die Finanzierung dieser Wohnung, wir überlegten, ob wir sie kaufen sollen. Der Besitzer hat sie uns angeboten.«
»Da kommt es ja nicht auf einen Tag an«, sagte Ossi.
»Haben Sie denn in Berlin die Leute angerufen, bei denen er sein könnte?«
Sie nickte heftig. »Die haben auch versprochen, sie würden sich gleich bei mir melden, wenn er irgendwo auftaucht.«
»Also, wenn ich jetzt zum Kollegen von der Vermisstenstelle im LKA gehe mit dieser Sache, dann tippt der sich an die Stirn. Entschuldigung, aber es ist so. Ein erwachsener Mann, er ist doch gesund?«
Ines nickte.
»Hat er Papiere dabei, Ausweis, Führerschein?«
Ines nickte. »Bestimmt. Warum?«
»Sehen Sie, wenn ihm etwas passiert ist, ein Unfall oder so, dann würde die Polizei oder das Krankenhaus ihn anhand der Papiere identifizieren und Sie sofort benachrichtigen. Sie sind doch gemeldet in Hamburg?«
Sie nickte. Sie hatte große Augen.
»Haben Sie ein Bild von Ihrem Mann?«
Ines überlegte einen Augenblick, dann kramte sie in einer Umzugskiste, fand ein Fotoalbum, blätterte und zog ein Foto von einer Seite ab. Sie gab es Ossi, der warf einen kurzen Blick darauf und
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