Mit Blindheit Geschlagen
und kein Gedichteseminar. Und zur Hauptsache: Ich habe Ihnen Ihren Brief gezeigt, den Sie an die Deckadresse dieses Theo Dreilich in Westberlin geschrieben haben. Dreilich ist Kreisvorsitzender der Jungen Union in Kreuzberg. Wenn die Junge Union keine feindlich-negative Organisation ist, wer dann? Die hetzen gegen unsere Republik, fordern ihre Beseitigung, kämpfen gegen die Friedenspolitik der Sowjetunion.«
»Ich habe nicht gewusst, dass Dreilich Mitglied der Jungen Union ist.«
»Das glaube ich Ihnen nicht. Aber selbst wenn Sie’s nicht gewusst haben, das schützt Sie nicht vor Strafe. Hinzu kommt: Sie haben diesem Dreilich Informationen gegeben, das ist verboten. Und dieser Dreilich hat die Informationen weitergeleitet an den westdeutschen Verfassungsschutz. Sie wissen, was das heißt?«
»Was für Informationen?«
»Zum Beispiel: Sie beklagen sich in diesem Brief, dass es mal wieder keine Ersatzteile für Ihre Waschmaschine gibt, und noch ein paar Sachen mehr, die geeignet sind, ein schlechtes Licht auf die Deutsche Demokratische Republik zu werfen. Es ist verboten, auch nichtgeheime Nachrichten an feindliche Organisationen weiterzugeben. Das steht im Strafgesetzbuch, und das hat unsere Volkskammer verabschiedet. Wir arbeiten streng nach dem Gesetz. Sie haben Ihren Verrat selbst schwarz auf weiß dokumentiert. Sie haben ihm aber nicht nur das verraten, sondern viel mehr bei Ihren regelmäßigen Treffs.«
Der Gefangene erinnerte sich, er hatte Dreilich vor gut zwei Jahren kennen gelernt im Palast der Republik, in der Mokka-bar. Er hatte mit Helga an einem Tisch gesessen, als ein Mann fragte, ob ein Platz frei sei. Der Mann war jung und gut gekleidet und gleich als Westdeutscher zu erkennen. Der Mann sprach die beiden an, erkundigte sich nach Arbeit und Wohnung, witzelte über Kaffeepreise und Bananen. Er kannte sich aus. Der Mann spendierte eine Runde Weinbrand, erzählte vom Studium in Westberlin, von seinem Auto, einem kleinen Alfa Romeo, von hohen Mieten und neuen Schallplatten. Wenn sie wollten, könne er Platten besorgen, Kurs eins zu vier, kein Problem, DDR-Mark brauche er sowieso immer. Helga und der Gefangene erzählten vom Studium. Gehe ihnen das nicht auf die Nerven, das Grundstudium M-L, fragte der Mann. Manchmal, antwortete der Gefangene, das hänge auch ab vom Dozenten, aber das sei im Westen gewiss ähnlich. Helga sagte, bei ihr sei das noch ein bisschen anders, sie habe es nicht so mit der Theorie, sehe aber ein, dass es ohne nicht gehe.
Der Mann stellte sich vor, Theo Dreilich. Man gab sich die Hand. Nein, sagte Dreilich, im Westen sei das nicht anders. Wenn er da an den Politikprofessor Brüderlein denke, der sei trocken wie die Sahara. Sie lachten. So gebe es auf jeder Seite Nervereien, sagte Dreilich, aber er habe die im Westen lieber, manchem könne man sich entziehen.
Dann schaute er auf die Uhr und erhob sich. Vielleicht sehe man sich ja mal wieder. Er sei kommende Woche um die gleiche Zeit wieder in der Mokkabar.
Als Dreilich gegangen war, sagte Helga: »Der ist ja ganz nett, ein bisschen exotisch.«
»Exotisch?«
»Ja, die Exotik des Westens.«
7
Stachelmann schlug den Kofferraumdeckel zu, schloss ab und rannte nach Hause. Er setzte sich auf den Sessel im Wohnzimmer und fror. Die Hände zitterten. Er ballte eine Faust und schlug sich aufs Knie. Es schmerzte, er schlug noch einmal. Das Telefon klingelte. Er stand auf und suchte das Mobilteil, er fand es in der Küche. Es war Ines.
»Ich kann jetzt nicht«, sagte Stachelmann und legte auf.
Mit dem Telefon in der Hand ging er zurück ins Wohnzimmer. Er saß auf dem Sessel und umklammerte das Gerät. Gedanken rasten durch seinen Kopf, doch fühlte er sich wie gelähmt. Wie kam der Sack in den Kofferraum? Er hatte ihn vor Augen, als stünde er davor. Stachelmann konnte sich vorstellen, in welcher Haltung die Leiche im Sack lag, auf der Seite, gekrümmt. Wer hatte ihm den Sack in den Kofferraumgelegt? Nach der Übernachtung im Hotel hatte er seine Tasche in den Kofferraum gestellt und ihn seitdem nicht mehr geöffnet. Also kam Pawelczyk nicht in Frage. Wittstock auch nicht, mit dem hatte er in der Küche gesessen und war danach gleich nach Charlottenburg gefahren. Oder hatte Pawelczyk ihn verfolgt? Wer war im Sack? Er überlegte, ob er ihn öffnen sollte. Es würde ihm niemand vorwerfen können, denn wie sollte die Polizei beweisen, dass er wusste, was in dem Sack war, bevor er ihn geöffnet hatte? Er verwarf den Gedanken, es
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