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Mit Blindheit Geschlagen

Mit Blindheit Geschlagen

Titel: Mit Blindheit Geschlagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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saß ihm in der Kehle, er schluckte.
    »Na ja, das mit Herrmann ist vorbei. Mal sehen, was seine Gene taugen.« Sie lächelte, aber er sah, wie sie sich dazu zwang. »Vielleicht reden wir gelegentlich mal.« Sie hob den Zeigefinger. »Außerdem, der Sagenhafte hat mir vorgeschlagen, dass wir bei der Meyerbeck-Sache zusammenarbeiten. Unter deiner Federführung, selbstverständlich. Und zum Ruhme unseres Meisters.« Sie schaute ihn ein wenig länger an, etwas schien ihr auf der Zunge zu liegen. Aber sie sagte nichts, stand auf und ging. »Bis dann!«
    Er drehte sich zum Computer, der Bildschirmschoner zeigte Würfel und Kugeln, deren Farbe und Position in schneller Folge wechselten. Er rüttelte leicht an der Maus, der Text seiner Habilitationsschrift stand vor seinen Augen. Die Buchstaben waren unscharf, er konnte sie nicht lesen. Er rieb sich die Augen, die Finger wurden nass. Dann stützte er die Ellbogen auf den Tisch, beugte sich vor und vergrub sein Gesicht in den Händen. Ein Weile verharrte er so, dann lehnte er sich zurück, zog ein Taschentuch hervor und trocknete die Augen.
    Die Zeit bis zum Beginn seines Seminars saß er starr auf seinem Schreibtischstuhl und starrte an die Wand. Bilder rasten durch seinen Kopf. Wie er mit Anne Leopold Kohn aufsuchte, den Mörder der Holler-Kinder. Wie sie den Berg der Schande abtrugen, die Aktenstapel auf seinem Tisch. Wie sie im Ali Baba in Lübeck im Hinterhof Wein tranken. Wie sie in seinem Bett schlief. Er hatte alle Zeichen übersehen. Blind. Das war seine Schuld. Und doch blieb die Verletzung, sie bekam das Kind eines anderen. Er atmete durch, schaute auf die Uhr, nahm seine Aktentasche und eilte zum Seminar. Unterwegs spürte er den Hunger, er hatte seit dem Frühstück nichts gegessen.
    Diesmal warteten die Studierenden still, sie wussten, was geschehen war. Man sieht nicht jeden Tag einen Dozenten, der im Kofferraum eine Leiche herumfährt. Und erlebt nicht jeden Tag einen, der sich bei einem Studenten entschuldigt. Gewiss hatte Hartmann seinen Kommilitonen etwas angedeutet, denn er war zurückgekehrt, saß am alten Platz, neben der Studentin, die ihn verteidigt hatte.
    Bringen wir es hinter uns, dachte Stachelmann und schaute Hartmann an. »Ich habe in der letzten Sitzung einige Dinge gesagt, die ich besser nicht gesagt hätte. Ich bedaure es. Manchmal verlange ich zu viel von den Studierenden und handle mir so eine Enttäuschung ein, die ich bei besagter Seminarsitzung an dem Falschen ausließ.«
    Hartmann nickte, auch die Gesichter der anderen entspannten sich. Hartmanns Nachbarin lächelte. Stachelmann staunte ein wenig, denn er fand seine Entschuldigung lau.
    »Gut, kommen wir zum Thema.« Er hatte die Seminararbeit, die zu besprechen war, kaum richtig gelesen. Aber er wusste, worum es ging, das musste diesmal reichen. Der Verfasser war ein hoch aufgeschossener Student mit Bubigesicht und wirren roten Haaren. Er hieß Schmidt und hatte sich noch nie zu Wort gemeldet. Aber er trug vor, als würde er dies oft tun. Es hatte alles Hand und Fuß, und doch war es langweilig. Es ging um die Frage, ob der Judenmord von Anfang an Ziel der Nazis gewesen war oder ob sich die Endlösungspläne erst im Wettstreit von Gruppen der NS-Hierarchie bis zur Vernichtung steigerten. Auschwitz stehe gewissermaßen schon im ersten Parteiprogramm von 1920, das hatten viele Historiker geschrieben. Hitler habe von Anfang an nichts anderes vorgehabt. Dieses Argument unterstützte auch Schmidt. Stachelmann hielt sich zurück, versuchte, die anderen zum Widerspruch zu reizen. Wie sei dann die Förderung der Judenemigration vor dem Krieg zu verstehen, gerade auch die Kindertransporte? Wie der Plan, die Juden in die Tropenhölle Madagaskar zu deportieren?Wie die Überlegung, sie hinter den Ural abzudrängen?
    Die Diskussion war matt, Hartmann gehörte zu den Eifrigen und widersprach Schmidt mit starken Gründen.
    Während Stachelmann die Diskussion leitete, fühlte er, wie die Niedergeschlagenheit wich. Er war in seinem Element und bedauerte es, als die Klingel die Debatte nach zwei Stunden beendete. Aber dann fiel ihm ein, dass nun Bohmings Traueransprache folgen würde, was ihm wieder die Laune verhagelte.
    Renate Breuer und die Männer warteten schon, Bohming war noch nicht da. Stachelmann stellte sich ans Fenster und schaute hinaus. Längst leuchteten die Laternen. Feine Nebelschwaden zogen im weißen Licht durch den Von-Melle-Park. Er spürte gleich, sie war gekommen. Sie stand neben

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