Mit Blindheit Geschlagen
sich in Zeitlupe bewegen. Umständlich packte er die Brötchen mit dem Bismarckhering in Papier. Als die Frau ihren Geldbeutel suchte und dann Münzen abzuzählen begann, verlor Stachelmann die Geduld. Er verließ den Stand, stieg die Treppe hinunter zu Gleis 7b, wo der Zug nach Lübeck wartete.
Am Tisch war kein Platz mehr frei. Er rückte auf den Fensterplatz der letzten Bank in Fahrtrichtung und sah sich um. Er hatte fast alle Leute im Großraumabteil der ersten Klasse schon gesehen und einiges aufgeschnappt von ihren Gesprächen. Die meisten arbeiteten in Verwaltungen, Versicherungen, Post, Bahn. Einer arbeitete bei einem Bauunternehmen, ein anderer im Sozialamt. Die meisten lasen Zeitung oder Illustrierte. Einer schrieb etwas in einen kleinen Block. Ein anderer lehnte seinen Kopf an die Wagenverkleidung und schnarchte leise mit offenem Mund. Stachelmann staunte, dass sich das jemand traute. Er hätte Angst, den Ausstieg zu verpassen.
Die Luft im Abteil war besser als in der S-Bahn, aber der Hunger wurde stärker. Kein Bissen seit dem Frühstück. In Lübeck war er kurz davor, eine Bratwurst zu kaufen, der Geruch zog ihn an. Als er die Würste sah im Fett, überlegte er es sich anders und lief nach Hause. Diesmal schaffte er es schneller als sonst. Er war außer Atem, als er die Wohnungstür öffnete. Er wollte gerade seinen Mantel an den Haken der Wandgarderobe hängen, da klingelte es, einmal, zweimal, dreimal. Es hörte sich schriller an als sonst. Er hängte den Mantel an den Haken und drückte die Gegensprechanlage. »Ja?«
»Herr Dr. Stachelmann?«
Er kannte die Stimme. »Ja.«
»Öffnen Sie. Hier ist die Polizei.« Es war ein Befehl.
Stachelmann drückte den Summer und hörte gleich Schritte im Treppenhaus. Sie waren laut. Er schaute durch den Türspion und erkannte Oberkommissar Burg und zwei Uniformierte. Als er öffnete, drangen sie in die Wohnung ein. Burg sagte: »Ich nehme Sie vorläufig fest wegen des Verdachts, Professor Wolf Griesbach ermordet zu haben.« Er schaute ihn streng an. »Haben Sie das begriffen?«
Stachelmann antwortete nicht.
»Packen Sie Zahnbürste und Unterwäsche ein«, sagte Burg. »Sie können mit Ihrem Anwalt telefonieren und ihn zum Haftrichter bestellen. Dem werden Sie gleich vorgeführt.«
***
Er hatte die Stones-Platte dabei. Helga und der Gefangene mussten nicht warten in der Mokkabar. Er könne nicht lange bleiben, sagte Dreilich. Er habe Angst, dass sie ihm irgendwann auf die Schliche kämen.
Der Gefangene hatte sich ohnehin gewundert, wie offen Dreilich über Flucht sprach. Schleuser wurden hart bestraft in der DDR, sie lasen es in der Zeitung und sahen es im Fernsehen.
Er werde so bald nicht mehr kommen, habe keine Lust, in Bautzen einzugehen, sagte Dreilich. Aber er habe eine Adresse, unter der er immer erreichbar sei. Wenn sie abhauen wollten, sollten sie an die Adresse schreiben. Das gelte auch, wenn sie beraten werden wollten. Er würde dann nicht selbst auftauchen, sondern einen Freund schicken. Dem könnten sie vertrauen wie ihm selbst. Er gab dem Gefangenen einen Zettel, darauf eine Anschrift in Westberlin. Jürgen Knoll, Joachimsthaler Straße 46a. »Meinen Namen nicht benutzen, die Staatssicherheit überwacht die Post. Schreibt dem Jürgen irgendwas. Wir benutzen keine Codewörter oder sonstigen Geheimkrimskrams. Wenn Jürgen einen Brief bekommt von euch, wird er ihn an mich weiterleiten. Sagt mir jetzt dreimal eure Adressen.«
Helga begann, Dreilich hörte zu, wiederholte die Anschriften. Zu Hause werde er sie sich aufschreiben. »Mein Gedächtnis war auch schon mal besser.«
Er legte die Platte auf den Tisch, stand auf, gab den beiden die Hand und verließ die Mokkabar ruhigen Schritts.
»Bis bald!« An der Tür drehte er sich um und winkte. Niemand sah ihm an, dass er Angst hatte.
»Wir können uns die Ostseegrenze ja mal angucken«, sagte Helga. »Dann sehen wir, was uns erwartet, sollten wir uns entschließen abzuhauen.«
»Ich fahre allein«, sagte der Gefangene. »Das fällt weniger auf.« Aber er dachte: Wenn es ein Hinterhalt ist, dann erwischt es nur mich.
»Traust du ihm?«, fragte Helga, als ahnte sie seine Gedanken.
Er hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Es gibt keinen Grund, ihm nicht zu trauen.«
»Es ist schwierig«, sagte Helga. Sie schüttelte ihren blonden Pferdeschwanz.
»Noch schwieriger ist, ob ich das überhaupt will. Mir kommt’s so vor, als wäre etwas losgerollt. Glaubst du, das Leben drüben ist ohne
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