Mit deinen Augen
noch einmal vorbeikommt und nach uns sieht.
»Nein - schicken Sie sie her.«
»Okay, Mr. King.« Joy geht wieder. Ist sie meinetwegen traurig? Oder sind wir jetzt keine richtigen Klienten mehr - im Grunde wartet man hier nur darauf, dass wir das Zimmer räumen, damit man das Bett für den nächsten Patienten frisch beziehen kann.
»Wer ist es?«, fragt Alex, streicht sich die Haare hinters Ohr und glättet ihren Rock. Erst jetzt fällt mir auf, wie hübsch sie aussieht: schwarze Hosen und eine frisch gebügelte weiße Bluse. Sid hat ein richtiges Hemd an und eine Jeans, die zur Abwechslung mal nicht so aussieht, als würde er sie gleich verlieren. Niemand hat ihnen gesagt, sie sollen sich anständig anziehen, und ich bin erstaunt, aber irgendwie macht es mich auch traurig, dass sie mich nicht als Ratgeber gebraucht haben. Scottie ist allerdings noch auf mich angewiesen. Man sieht es an ihrem übergroßen T-Shirt, das so weit über ihre Shorts hängt, dass man denkt, sie trägt überhaupt nur ein T-Shirt. Hintendrauf steht BISSIG, und man sieht einen Pitbull mit Schaum vor dem Mund, der über einem Gänseblümchen das Bein hebt.
»Aber was ist, wenn wir sie nicht hierhaben wollen?«, fragt Scottie. »Die Zeit gehört doch uns.«
»Dafür ist es ein bisschen zu spät«, sagt Alex.
»Und wenn sie vom Jugendamt kommt?«, fragt Scottie.
»Wieso sagst du das, Scottie? Warum sollte sich das Jugendamt einschalten?« Ich schaue auf ihr Hemd, ihre Haare, ihre Fingernägel.
»Um uns abzuholen«, sagt sie.
»Aber wieso denn?«
»Das war ein Witz, beruhige dich.«
Sid sitzt wieder auf demselben Stuhl wie gestern und klopft mit dem Fuß auf den Boden. Er wirkt nervös. Dann hört das Fußklopfen plötzlich auf, und er strafft sich. Ein zufriedener Ausdruck erhellt sein Gesicht. Ich schaue zur Tür und sehe einen Strauß weiße Rosen, der so gigantisch ist, dass er das Gesicht der Frau verdeckt, aber ich erkenne sofort das kupferrote Haar und die bleichen Arme von Julie Speer.
Sie stellt die Vase auf den Boden und inspiziert ihren hellblauen Pulli.
»Ich habe was verschüttet«, sagt sie. Der Pulli ist vorne ganz nass, und witzigerweise sieht der Fleck aus wie eine Rose am Stil.
»Hier«, sagt Scottie. Sie kramt in der Kommode bei Joanies Bett und zieht ein Krankenhausnachthemd heraus. »Nehmen Sie das da.«
Julie zögert kurz, aber dann sagt sie »Danke« und reibt damit ihren Pullover. Dann hält sie inne, schaut uns alle an, und ihr Blick fällt auf Joanie. Ich habe ihr zwar erzählt, meine Frau sei krank, aber ich kann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, dass sie deswegen hier ist. Alex nimmt die Vase und stellt sie auf das Regal am anderen Ende des Zimmers, weil der Tisch neben Joanies Bett voll ist.
»Wie nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sage ich. »Ich habe nicht erwartet, dass Sie …«
»Ich weiß. Wir haben uns ja erst vor Kurzem kennengelernt.« Sie mustert meine Töchter. »Aber ich habe in den letzten Tagen viel an euch Mädchen gedacht, und ich wusste ja, dass eure Mutter hier liegt. Und da hatte ich das Gefühl, ich sollte vorbeikommen.«
Ihre Hände zittern leicht. Sie legt die Hand aufs Herz und holt tief Luft. Ich fasse sie am Ellbogen und führe sie zu dem Stuhl neben Sid. Er nickt ihr zu.
»Das ist Sid«, sage ich. »Sid, Mrs. Speer.«
»Julie«, sagt sie.
Er streckt die Hand aus, sie nimmt sie, und aus irgendeinem Grund sagt sie: »Danke.«
»Wo sind Ihre Kinder?«, fragt Scottie.
Über diese Frage scheint Julie nachdenken zu müssen. »Sie sind noch auf Kauai, bei meinem Mann. Heute Nachmittag kommen sie zurück.«
»Sind Sie mit meiner Mom befreundet?«, will Scottie wissen.
Julie betrachtet Joanie, als hinge die Antwort auf Scotties Frage davon ab, was sie sieht. »Nein«, sagt sie. »Wir sind uns nie begegnet.«
Alex und ich tauschen verdutzte Blicke. Das passiert in letzter Zeit öfter: Immer, wenn etwas seltsam oder ärgerlich oder lustig ist, schaue ich zuerst zu Alex. Was will Julie hier ?, frage ich mit den Augen.
»Vielen Dank für die Blumen. Es ist überhaupt sehr nett, dass Sie gekommen sind.« Das habe ich schon einmal gesagt, aber etwas anderes fällt mir nicht ein.
»Alex«, sagt Sid. »Scottie. Wir lassen die beiden ein bisschen allein.«
»Was?«, sage ich. »Nein, nein, kein Problem, ihr könnt ruhig bleiben.«
Sid legt Alex die Hand auf den Rücken und schiebt sie zur Tür. Scottie trottet hinter den beiden her, dann schließt Sid die Tür, und ich
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