Mit deinen Augen
Glas auf den Tisch. Vielleicht ist ihr wieder eingefallen, dass sie tun und lassen kann, was sie will. Sie weiß nicht, dass meine Frau vor zwei Tagen gestorben ist. Sie fühlt sich hier als die Siegerin, mit ihrem toten Mann und ihrem unmöglichen Sohn.
»Ich trinke normalerweise keinen Alkohol«, sagt sie. »Schon gar nicht um diese Tageszeit.«
»Ich weiß.« Ich sehe die Ähnlichkeit mit Sid: die scharfe Nase und die großen Augen, die außen leicht nach unten gehen.
»Benimmt er sich denn einigermaßen?«, fragt sie.
Ich denke daran, wie er kifft und Zigaretten raucht, wie er meiner Tochter auf den Hintern klatscht, muffig herumsitzt und manchmal nicht redet, wie er Brians Ehe ruiniert und wie er, wie Scottie sagen würde, von meinem Schwiegervater eine verpasst bekam.
»Ja«, sage ich. »Er ist erstaunlich hilfreich.«
»Ich kann Ihnen Geld geben«, sagt sie, »fürs Essen. Für die ganzen Unkosten, die Sie seinetwegen hatten.«
»Ach, nein, das ist nicht nötig. Machen Sie sich keine Gedanken deswegen.«
Sie blickt sich im Zimmer um, dann wandert ihr Blick durch die Fliegengittertür zum Garten, zum Swimmingpool, zum Berg. Ich folge ihrem Blick, dann frage ich sie, ob ich nachsehen soll, warum er so lang braucht.
»Hat er Ihnen gesagt, wieso ich ihn rausgeworfen habe?«
»Er hat mir erzählt, dass sein Vater gestorben ist. Und dass er ihn vermisst.«
»Es war nicht leicht mit seinem Vater«, sagt sie. »Aber er hat gut für uns gesorgt. Er hat Sid geliebt.«
»Das glaube ich.«
»Sie denken bestimmt, ich bin herzlos, weil ich ihn rausgeworfen habe.«
Ihr Gesicht wirkt müde. Sie sieht älter aus, als sie wahrscheinlich ist.
»Nein, das denke ich nicht. Kinder sind schwierig. Manchmal ist so eine Maßnahme das Einzige, was hilft.Vor allem bei Sid. Mit ihm ist es echt kein Spaziergang.«
»Da haben Sie recht.« Sie lacht, und es ist fast so, als würden wir einander gestehen, dass unsere Kinder zwar schwierig sind, wir sie aber gar nichts anders haben wollten. Ich sehe, dass sie Sid eine dieser Zeitschriften mitgebracht hat, die er so gern liest, mit Mädchen auf Kühlerhauben oder Mädchen auf Motorrädern.
»Ich muss ihm sagen, dass ich ihm glaube«, sagt sie.
Sie schaut an mir vorbei, und ich weiß, er ist da, er kommt den Korridor entlang, vorbei an den Fotos von uns, die dort an der Wand hängen, vorbei an dem Tisch mit den Beileidskarten, vorbei an dem schwarzen japanischen Übertopf, der wie ein Gong klingt, wenn man mit einem in ein Geschirrtuch gewickelten Holzlöffel daraufschlägt. So hat Joanie uns immer zu den Mahlzeiten gerufen. »Essen!«, hat sie gerufen und auf den Topf geschlagen. »Essen!«
»Hi, Mom«, sagt Sid.
Sie steht auf, bleibt aber, wo sie ist, zwischen Sofa und Couchtisch, beschützt. Ich erhebe mich ebenfalls und sehe Sid aufmunternd an. Er will nicht, dass ich gehe, das spüre ich, aber das ist nicht mein Problem. Uns verbindet eine ähnliche Aufgabe:Wir müssen unsere Toten und die Person, die sie wirklich waren, in Einklang bringen. Wir möchten loskommen, wir möchten unseren toten Monarchen nicht so viel Macht zugestehen, wir möchten sie daran hindern, unser Leben zu regieren - dabei weiß ich doch längst, dass das unmöglich ist, denn mein Leben beherrschen sie seit Jahrhunderten.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Mary«, sage ich.
Ich gehe, aber ich höre noch ihre Stimmen. Ich würde mir gern einbilden, dass ich auch höre, wie sie sich umarmen, aber ich weiß ja eigentlich, dass ich das nicht hören kann. Eine Umarmung ist unhörbar.
Alex steht neben dem Gong, und ich führe sie weg.
»Reden sie miteinander?«, fragt sie.
»Ich glaube, ja.«
Wir gehen an den Bildern von Joanie vorbei. Ich beachte sie nicht, aber ich kenne die Reihenfolge. Joanie auf dem Mauna Kea, mit Alex auf den Schultern. Joanie und ich und ein paar Freunde beim Essen in einem sich drehenden Restaurant, in dem uns allen schlecht wurde. Alex auf ihrem Montainbike, wie sie durch eine Bananenplantage fährt. Joanie auf einem Boot, im Bikini, und Scottie, die sich über die Reling beugt und so tut, als würde sie kotzen. Joanie in einem Kanu, wie sie gerade durch eine Welle fährt und sich über den Ausleger beugt, um zu verhindern, dass das Boot kippt.
Scottie liegt auf dem Sofabett, unter einer Decke, die sie von ihrem eigenen Bett mitgebracht hat. Sie sieht fern; etwas anderes haben wir während der letzten beiden Tage alle nicht getan. Ich ziehe die Schuhe aus und krieche zu
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