Mit deinen Augen
dem Berg dahinter. Ich trinke Whiskey und fühle mich alt. Nachdem ich sein Bild gesehen hatte, war ich nicht mehr fähig, zu Freunden zu fahren. Ich wollte nur noch nach Hause. Jetzt halte ich das Telefon in der Hand.Wenn ich die Nummer seines Büros wähle, erwische ich sowieso nur den Anrufbeantworter, denn es ist neun Uhr abends. Ich werde anrufen, mir seine Stimme anhören und wieder auflegen. Ich zögere noch, denn wenn ich die Nummer gewählt habe, ist es so, als wäre ich damit eine Verpflichtung eingegangen und vertraglich gebunden.
Ich wähle, um seine Stimme zu hören. Nach dem dritten Klingeln springt der Anrufbeantworter an: »Hi, hier ist Brian Speer.Tut mir leid, dass ich Ihren Anruf nicht entgegennehmen kann. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen, rufe ich Sie so bald wie möglich zurück.«
Welcher Geschäftsmann sagt denn »Hi«? Ich kann mich daran erinnern, wie meine Mutter mich immer zurechtgewiesen hat, wenn ich »Hi« oder »Hallo« statt »Guten Tag« sagte. Seine Stimme klingt kräftig, fast drängend, was einen guten Eindruck macht. Man muss seinen Kunden immer das Gefühl vermitteln, dass man ihnen einen Gefallen tut, wenn man ihr Geld nimmt. Nach dem Signalton lege ich auf und gehe den Flur hinunter zu Scotties Zimmer. Ich höre, dass Esther vorliest, und wandere weiter, aber kurz vor meinem Zimmer höre ich meine beiden Töchter wie die Verrückten kichern. Ich muss daran denken, wie Esther mir erzählt hat, dass Scottie bei den Kinderreimen immer lachen muss. Ich gehe zurück und lausche.
»Das Kätzchen hat vier Tätzchen und einen langen Schwanz.«
»Lies noch mal das mit den Hampelmännern«, höre ich Alex sagen.
»Das habe ich doch schon dreimal gelesen.«
»Nur noch ein Mal«, bettelt Scottie.
Ich höre Esther blättern. Und dann: »Zwei Hampelmänner aus dem Sack, der eine heißt Schnick, der andere Schnack. Schnick hat ein Krönchen …«
Den Rest verstehe ich nicht, weil er im Gelächter untergeht. Kopfschüttelnd gehe ich in mein leeres Zimmer. Ich staune selbst, wie sehr es mich freut, dass Scottie die Mehrdeutigkeit von »Schwanz« und »Sack« kennt und nicht ernsthaft von Kinderreimen begeistert ist. Außerdem finde ich es gut, dass meine Mädchen gemeinsam lachen - das habe ich schon ewig nicht mehr erlebt. Oder vielleicht noch nie. Alex kam immer kaum aus ihrem Zimmer, als sie noch zu Hause wohnte. Trotzdem fühle ich mich durch ihr Gekicher ausgeschlossen und traurig. Ich glaube, ich bin zu spät dran - diese Vaternummer funktioniert nicht mehr richtig. Und warum können die beiden nicht über andere Dinge lachen, über normale Dinge?
»Hey, Chef.«
Ich drehe mich um. Sid kommt aus Alex’ Zimmer, in Boxershorts und ohne Hemd.
»Haben Sie ihn angerufen?«, fragt er.
»Das geht dich nichts an«, sage ich. »Apropos - du schläfst nicht in diesem Zimmer. Und zieh dir bitte etwas über.«
»Warum?«
»Ich finde, du solltest nach Hause gehen«, sage ich.
»Damit wäre Alex nicht einverstanden.«
Das stimmt, und ich vermute, wenn ich darauf bestehe, ist sie knallwütend auf mich.
»Du kannst im Gästezimmer schlafen«, sage ich. »Das ist mein letztes Angebot. Und du möchtest doch sicher, dass ich dir vertraue.«
Er reibt sich den Bauch. So viele Muskeln! Das sieht richtig unnatürlich aus. Instinktiv ziehe ich den Bauch ein.
»Wir tun doch sowieso, was wir wollen«, sagt er.
»Ja, aber so leicht werde ich es euch nicht machen.« Ich denke an meine eigene Jugend. Klar, junge Menschen finden immer einen Weg, aber ich weiß noch sehr genau, wie schwierig es war, einen Ort zu finden, wo man mit einem Mädchen schlafen konnte. Mädchen haben nicht einfach irgendwo Sex. Eine Frau vielleicht, ein Mädchen nicht.
Mein Zimmer ist neben dem von Alex. Ich trete von einem Fuß auf den anderen. »Knarrende Dielen«, sage ich.
Sid lacht. »Keine Sorge. Ich hab nur einen Witz gemacht. Darum geht’s bei uns nicht. Ich würde sowieso nicht in ihrem Zimmer schlafen.«
Der hellblaue Schatten in seinem Gesicht ist dunkel geworden und hat sich mit Dunkelrot vermischt, als hätte er sich rote Beeren ums Auge geschmiert.
»Er ist ein Niemand«, sagt Sid. »Rufen Sie ihn einfach an. Machen Sie ihm die Hölle heiß.«
Ich drehe mich um und gehe in mein Zimmer. Ich denke daran, wie Sid zuerst die Arme hob, um den Schlag abzuwehren, und wie er sie wieder sinken ließ und mit den Händen seine Oberschenkel umschloss. Er muss beschlossen haben, den Schlag hinzunehmen. Ich
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