Mit deinen Augen
könnte ihn fragen, aber ich will keinen Grund haben, ihn zu mögen.
In meinem Zimmer wähle ich Brians Nummer noch einmal und höre mir wieder den Anrufbeantworter an, aber dieses Mal empfinde ich seine Stimme und seinen Tonfall als beruhigend. Er macht mir keine Angst, was bei einem echten Rivalen eigentlich der Fall sein müsste. Ich stelle ihn mir vor, wie er in einem dieser Häuser die Arbeitsflächen in der Küche wischt und Brot bäckt, damit in den Vorführräumen eine wohnliche Atmosphäre entsteht. Ich stelle mir vor, wie er abstaubt. Er ist ein Niemand. Er könnte für mich arbeiten.
Nach dem Signalton sage ich, »Hallo, Brian.« Ich mache eine Pause. »Ich interessiere mich für das Haus in der Kalakaua Avenue. Das hellblaue Haus mit den Fensterläden.«
Wieder höre ich die Mädchen lachen. Ich hinterlasse meine Nummer, lege auf und bleibe reglos sitzen, als ob eine Bewegung alles ruinieren würde.Was will ich eigentlich? Ihn sehen? Ihn demütigen? Mich mit ihm messen? Vielleicht will ich ihn einfach nur fragen, ob sie mich je geliebt hat.
21
Am nächsten Tag gehen wir ins Krankenhaus. Alexandra sieht ihre Mutter erst das zweite Mal seit dem Unfall. Gleich nachdem Joanie eingeliefert wurde, ist sie gekommen, und seitdem nicht mehr. Sie steht am Fußende des Bettes, und ihre Hand liegt auf Joanies zugedecktem Bein. Sie sieht ihre Mutter an, als wollte sie gleich etwas sagen. Ich warte, aber sie sagt nichts.
Überall im Zimmer stehen Dosen mit Macadamia-Nüssen herum. Scott hat sein Versprechen wahr gemacht: Er hat Joanie die Dinge gebracht, die sie besonders mag.
»Sag was«, flüstert Scottie.
Alex sieht erst Scottie an, dann wieder ihre Mutter, die noch an die Apparate angeschlossen ist.
»Hi, Mom«, sagt sie.
»Erzähl ihr, dass du betrunken warst«, sagt Scottie. »Sag ihr, du bist Alkoholikerin.«
»Ich glaube, das ist genetisch bedingt«, sagt Alex.
»Kinder«, sage ich, aber ich weiß nicht, weswegen ich sie jetzt rügen sollte. »Seid bitte ernst.«
Joanie sieht aus, als wäre sie gerade gewaschen worden. Sie ist nicht geschminkt, und ihre dunklen Haare sind feucht. Plötzlich möchte ich die Mädchen wegschicken. Ich verstehe, dass sie nicht wissen, was sie sagen sollen, und dass sie deswegen Schuldgefühle haben.Vielleicht wäre es besser für sie, das alles gar nicht mitzukriegen. Vielleicht sollten sie nicht so ernst sein müssen. Vielleicht irre ich mich.Vielleicht darf ich sie nicht zwingen, die ganze Zeit hier zu sein.
»Wo ist Sid?«, frage ich. Komisch, dass ich nach ihm frage.
»Er raucht eine Zigarette«, sagt Alex.
»Sag ihr, dass es dir leidtut«, sagt Scottie.
»Dass mir was leidtut?«
»Dass du besoffen warst. Dass du kein Junge bist. Mom wollte Jungs. Das hat mir Grandma erzählt.Wir sind Mädchen.«
»Tut mir leid, dass ich mich schlecht benommen habe«, sagt Alex. »Dass ich Dads Geld für Cola und Alkohol rausgeschmissen habe. Dabei hättest du es für Gesichtscreme ausgeben können. Das tut mir leid.«
»Alex«, sage ich.
»Dad erlaubt mir, dass ich Cola light trinke«, sagt Scottie.
»Mir tut überhaupt alles leid«, sagt Alex. Dann sieht sie mich an und fährt fort: »Tut mir leid, Mom, dass dir Dad nicht gut genug war.«
»Alex, jetzt gehst du zu weit. Hör auf.«
»Willst du mir Stubenarrest geben? Oder schickst du mich auf eine andere Schule? Oder bekomme ich eine Auszeit?«
Ich weiß nicht, was tun - vor Scottie will ich nicht »Deine Mutter liegt im Sterben!« brüllen -, also greife ich zur altbewährten Methode: Ich packe Alex an den Schultern, hole aus und gebe ihr einen Klaps.
»Du hast eine verpasst gekriegt!«, ruft Scottie.
»Scottie - raus auf den Flur.«
»Aber sie ist doch zu weit gegangen.«
Ich hebe die Hand. »Auf der Stelle.«
Scottie rennt aus dem Zimmer.
»War das gerade ein Klaps?«, fragt Alex.
»Du hast kein Recht, so mit deiner Mutter zu sprechen. Sie liegt im Sterben, Alex. Das sind deine letzten Worte. Sie ist deine Mutter. Sie liebt dich.«
»Ich habe sehr wohl das Recht, so mit ihr zu sprechen, und du auch.«
»Gestern hast du geweint. Ich weiß doch, du liebst sie und du hast ihr noch mehr zu sagen.«
»Hab ich nicht. Na ja, eigentlich schon, aber nicht jetzt. Jetzt bin ich sauer. Ich kann nichts machen.«
Alex spricht leise, und ich merke, sie meint es ehrlich. Ich glaube ihr, oder ich kann sie jedenfalls verstehen. »Wut bringt uns nicht weiter«, sage ich. »Gut - deine Mutter war nicht zufrieden und
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