Mit den Augen eines Kindes
anmachte und Oma es sah, meckerte sie immer sofort und sagte: «Mach die Kiste aus. Du weißt doch, wie der Kleine ist. Geh lieber mal mit ihm an die frische Luft.»
Um Opa einen triftigen Grund zu verschaffen, mit dem Kleinen an die frische Luft zu gehen, statt sich mit ihm vor den Fernseher zu pflanzen, falls Oma die Wohnung verlassen musste, durfte Olli am Mittwochmorgen sein neues Fahrrad mit zum Kindergarten nehmen und plante für den Nachmittag eine Radtour entlang des Neffelbachs, vielleicht tauchte darin ja wieder mal ein weißer Hai auf. Oma ließ den ganzen Vormittag die Uhr nicht aus den Augen, schälte schon mal die Kartoffeln, zerschnippelte den Blumenkohl und legte die Bratwürste bereit, damit sie nachher keine Zeit beim Kochen verlor. Zehn Minuten vor zwölf, also rechtzeitig, brach Oma auf, um ihren Enkel abzuholen.
Nun begab es sich aber, dass Oma unterwegs eine gute Bekannte traf und ein Weilchen plauderte, im Höchstfall zehn Minuten. Dann stellte sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr fest, dass es allerhöchste Zeit wurde und der Kleine vermutlich schon ungeduldig auf sie wartete. Doch da befand Oma sich im Irrtum.
Gewartet hatte Olli im Höchstfall zwei Minuten, dann waren angeblich zwei finster dreinblickende Höllenengel aufgetaucht und er zur Sicherheit losgeradelt. Nicht etwa zur Wohnung von Oma und Opa. Das Risiko wäre ja viel zu groß gewesen. Am Ende hätten die beiden Rocker Omas Küche zu Kleinholz gemacht und auch noch Opas Fernseher oder die Eisenbahn zertrümmert. Olli führte sie in die Irre, mitten rein in die Stadt.
Während Oma in heller Aufregung unser gesamtes Viertel nach ihm absuchte und gar nicht wusste, wie sie uns das erklären sollte, erreichte Olli die große Kreuzung an der Kirche. Natürlich konnte er dort nicht abwarten, bis an der Ampel das grüne Männchen aufleuchtete. Das galt ja auch bloß für Fußgänger, fand er, trat nochmal ordentlich in die Pedale und fuhr mit Schwung über den Zebrastreifen. Ein Autofahrer musste abrupt bremsen, der zweite fuhr auf.
Die beiden Rocker machten sich natürlich sofort aus dem Staub. Die hatte außer Olli auch niemand gesehen. Und er wusste, was sich für Unfallzeugen gehörte, blieb vor Ort, hätte auch nicht weiterfahren können. Ihm war die gegenüberliegende Bordsteinkante zum Verhängnis geworden. Den Kerpener Kollegen erzählte er bereitwillig, wie er hieß, wo er wohnte, dass aber niemand zu Hause war, weil Mama operieren musste und Papa im KK 41 in Hürth Einbrecher fing – er war stolz, dass er das so genau wusste. Oma und Opa erwähnte er lieber nicht.
Man nahm ihn mit auf die Wache und rief mich an. Da saß er dann mit blutenden Knien, seine Nase hatte auch etwas abbekommen, doch das war für ihn nebensächlich. Körperliche Blessuren heilten nach seinen Erfahrungen von alleine. Da musste Mama nur ein Pflaster draufmachen. Das schöne neue Rad dagegen besaß solche Selbstheilungsmechanismen nicht. Der Lenker war verbogen, der Vorderreifen sah aus wie ein Ei. Aber Olli war überzeugt, dass Papa es heile machen könne.
Ich holte mein tapferes Kerlchen – die Kollegen bezeichneten ihn so – mitsamt seinem demolierten Rad ab und erfuhr, dass die gesamte Wache in der letzten halben Stunde so gut unterhalten worden war wie sonst selten. Olli hatte ihnen sein komplettes aufregendes Leben erzählt, einschließlich der Begegnung mit ET, dem er etwas Kleingeld gegeben hatte, damit ET nach Hause telefonieren konnte. Den Überfall auf den Kindergarten hatte er selbstverständlich auch angeführt und die Vermutung geäußert, die beiden Rocker hätten ihm aufgelauert, weil sie einen Zeugen mundtot machen wollten. Aber darum brauchte sich die Kerpener Polizei nicht zu kümmern, das machte Papa schon.
Es war im Prinzip alles geklärt, nur noch eine Frage offen. Wer für den Schaden aufkommen musste, Hannes Haftpflicht oder der zweite Autofahrer, der vielleicht einen Moment geträumt, zu dicht hinter seinem Vordermann, möglicherweise auch einen Tick zu schnell gewesen war. Und im Zweifel sind immer die Autofahrer dran.
Ich brachte Olli rasch zu meinen Eltern. Während der kurzen Fahrt meinte er, wir sollten Mama und Oma vielleicht besser nicht erzählen, was tatsächlich passiert sei, sonst machten die sich am Ende noch fürchterliche Sorgen. Er hielt es für entschieden günstiger zu behaupten, er habe nur mal bei seinem Freund nachschauen wollen, ob Sven noch traurig sei. Und er habe hoch und heilig versprechen
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