Mit der Linie 4 um die Welt
Kind über den Kopf. Dass es auf dem Schoß der Oma sitzt, passt ihr nicht. Sie weist dem Kind einen freien Platz zu. Es möchte jedoch lieber bei der Oma bleiben, aber die Schaffnerin kennt kein Pardon, das Kind muss sich umsetzen. Die Schaffnerin herrscht über ihr kleines Reich. Auch die drei jungen Männer, an ihren Fotoapparaten als Touristen zu erkennen, die die Szene beobachtet haben, werden, als sie lachen, mit Blicken getötet.
»Wenn du Ordnung schätzt und denkst, dass Gesetze dazu da sind, sie einzuhalten, komm und arbeite als Schaffner.«
Der Bus nimmt einen kleinen Anlauf über eine Straße, die vorgreift. Es ist, die deutschen Touristen im Bus hören und staunen, die Merkelstraße. Geehrt wird aber nicht Angela, sondern ihr Namensvetter, der deutsch-baltische Publizist Garlieb Helwig Merkel. Früh mit dem Elend der baltischen Landbevölkerung konfrontiert, schrieb er das Buch Die Letten vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts, das 1796 in Leipzig erschien und eine der Grundlagen der estnischen und lettischen Geschichtsschreibung darstellt. Das hat ihm eine Straße eingebracht, die parallel zum ehemaligen Festungsring verläuft, heute eine mit schmalen Kanälen durchzogene Grünanlage.
Die frisch renovierte Altstadt von Riga gehört seit 1997 zum Welterbe der UNESCO . Sie ist ehrlich, will einfach nur dastehen, schön sein und dezent das Portemonnaie aufhalten, damit die Touristen etwas hineinwerfen. Sie ist autofrei, auch die öffentlichen Verkehrsmittel fahren, bis auf ein paar Marschrutkas, um sie herum.
Der Bus hält vor einer Disko. Zu Sowjetzeiten war es ein Kulturhaus im Anna-Wöhrmann-Park, dessen Gelände von der deutsch-baltischen Familie Wöhrmann 1812 gestiftet wurde, kurz nachdem die Vorstädte angesichts der napoleonischen Bedrohung vorsichtshalber niedergebrannt worden waren. Besucher der ärmeren Schichten waren damals nicht gern gesehen im Park.
Nach der Niederlegung der Festung nahm die Stadt bis 1914 einen rasanten Aufschwung. Das war dem englischstämmigen Bürgermeister George Armistead zu verdanken, der vor allem zur Verbesserung der Infrastruktur, der Sozialpolitik und der Bildung beitrug. Er fuhr selbst mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit und setzte sich dafür ein, das Zweiklassensystem in der Straßenbahn abzuschaffen, das es Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts noch gab. Heute nehmen die Reichen das Auto, der Rest drängt sich in den Bussen und Bahnen.
Wenn der Bus, voll mit neuen Fahrgästen, anfährt, schiebt sich die Schaffnerin durchs Gedränge, in der einen Hand eine Rolle mit orangefarbenen Fahrscheinen, die sie mit einer schnellen Handbewegung abreißt. Mit der anderen Hand sammelt sie das Geld ein. Eine Fahrt kostet 20 Santims, 32 Cent, Rentner bezahlen die Hälfte, ab dem Alter von achtzig Jahren ist die Fahrt kostenlos, ebenso für Kinder bis zehn Jahre.
»Wenn du mit Geld umgehen kannst und Verantwortungsgefühl hast, komm und arbeite als Schaffner.«
Auf einer der zahlreichen Websites von Trolleybusfreunden habe ich gelesen, dass Trolleybusse nur in eine Richtung abbiegen können, wegen der Stromabnehmer. Den Rigaer Trolleybussen ist das nicht bekannt, besser gesagt: Es ist ihnen schnurzpiepegal, sie biegen sowohl nach rechts als auch nach links ab, fahren Schlangenlinien und bremsen so abrupt, dass man sich fragt, warum es selten passiert, dass ein Stromabnehmer, ein circa drei Meter langer Stab, der die Oberleitung mit dem Fahrzeug verbindet, nicht aus der Spur springt. Das nennt sich dann Stangenentgleisung. Wenn das passiert, muss der Fahrer, in Riga oft auch eine Fahrerin, aussteigen, Handschuhe überziehen und den Stromabnehmer mit dem am Heck des Busses angebrachten Fangseil wieder in die Fahrleitung einfädeln. Bevor es dazu kommt, kontrolliert er das Ende des Stromabnehmers wie ein Jockey die Hufe seines Pferdes. Dann lässt er die Stange zurückschnellen zum Plus- oder Minuspol.
Der erste Oberleitungsbus der Welt fuhr am 29. April 1882 als Versuchsfahrzeug den Kurfürstendamm in Halensee bei Berlin hinunter. Konstrukteur war Werner von Siemens. Damals lief hinter dem Bus an der Stromleitung noch eine Laufkatze entlang, die dem Bus ihren englischen Namen gab, den er in Osteuropa heute noch hat – Trolley. Laufkatzenbus wäre doch auch ein schöner Name. Leider entschieden sich die Deutschen für die Bezeichnung O-Bus. O für Oberleitung. In der Bundesrepublik ist er weitgehend verschwunden. In osteuropäischen
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