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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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siebzig Prozent ihres Werts verloren.
    Angesichts dessen ist es seltsam, wie ruhig es in der Stadt ist. Die Straßen sind sauber, die Leute freundlich, Obdachlose nicht zu sehen. Ich bin mir aber sicher, dass ich bei meinem flüchtigen Blick auf die Verhältnisse das Brodeln im Untergrund nur nicht spüren kann. Gestern erzählte mir eine Isländerin in meinem Alter, dass sie, als sie in Westberlin studierte, den Fall der Mauer miterlebte. Nach dem Ausbruch der isländischen Finanzkrise und dem Sturz der Großen Koalition aufgrund anhaltender Proteste der Bevölkerung hoffte sie, dass wie 1989 im Ostblock eine Diskussion über die herrschenden Verhältnisse auch in Island entstehen könnte, aber sie wurde enttäuscht. »Ein Fenster ist aufgegangen, aber es hat sich ganz schnell wieder geschlossen.«
    Die 4, in die ich am Busbahnhof Hlemmur umsteigen will, fährt erst in zwanzig Minuten. Inzwischen ist es heller geworden, aber der Fotoapparat löst immer noch den Blitz aus. In der Mitte des Platzes steht das Haus der Buscompany, dort gibt es einen Wartebereich. Eine kleine Ausstellung von in Island vorkommenden Mineralien soll die Wartezeit verkürzen. Ich bin alleine im Raum. Alles ist in Gelb gehalten wie die Fahrzeuge. Die 4 fährt in den Busbahnhof ein, aber der Fahrer macht erst einmal Pause. Von außen kann man in den Aufenthaltsraum sehen. Er trinkt einen Kaffee und blättert Boulevardzeitungen durch. Auf einem Erste-Hilfe-Plakat an der Wand schaffen drei Busfahrer einen betrunkenen, vielleicht auch ohnmächtigen Fahrgast weg. Drei andere Busfahrer, die den Aufenthaltsraum gerade verlassen, um sich auf die parkenden Busse zu verteilen, sprechen Polnisch miteinander. Viele Busfahrer sind Polen, die in der Bauboomzeit der neunziger Jahre als Bauarbeiter nach Island kamen und als Ausländer als Erste ihre Arbeit verloren und umsattelten. Die Informationen der Busgesellschaft sind neben Isländisch und Englisch auch auf Polnisch. Im City Guide Reykjavík lese ich, dass Busfahrer in Island nur wenig Englisch sprächen und nicht unbedingt »Smiley-Typen« seien.
    Aus der Fußgängerzone kommen zwei Frauen. Sie schieben gemeinsam einen Wagen, in dem sechs Kleinkinder sitzen. Er ist grob gezimmert, hat Vollgummireifen und passt auf den Zentimeter genau durch die hintere Bustür. Die Kinder tragen Sicherheitsgurte, ein Mädchen ist unruhig, reißt am Geschirr. Allen Kindern laufen die Nasen. Sie werden von den Kindergärtnerinnen in die 6 geschoben, die eine Weile ihre Türen aufhält. Es steigen noch zwei Japaner zu, die sofort ihre Fotoapparate zücken, um die festgebundene, aber einigermaßen fröhliche Kinderschar abzulichten für das digitale Erinnerungsalbum.
    Als die 6 abfährt, verlässt auch der Fahrer der 4 den Pausenraum und schließt seinen Bus auf. Ich zeige meinen Fahrschein vor und darf passieren, ohne dass ich zuvor »skiptimiđi« gesagt hätte, der andere Busfahrer hat meinen Willen zum Umsteigen wohl stillschweigend vorausgesetzt. Ich finde das Wort später wieder auf einem Bus, der Reklame für die Verkehrsbetriebe macht. Es steht als Sprechblase über dem Kopf eines comicartigen Säuglings, der seiner Mutter, wenn ich es recht verstehe, zu einem Abonnement mit Umsteigeberechtigung rät, während sie ihn wickelt.
    Unfreundlich ist der Busfahrer nicht, er ist höflich. Ich bin sein einziger Fahrgast. Als der Bus einen Kreisverkehr erreicht, um von der Haifischgasse auf die Borgartún zu wechseln und ein Stück nach Osten zu fahren, habe ich einen wunderbaren Blick auf den Atlantik und die nördlichen Bergketten der Insel.
    In der sechsten Klasse musste ich in Erdkunde einen Vortrag über die Geysire auf Island halten. Es war im November 1976, ich weiß es deshalb genau, weil es einen Tag nach dem Köln-Konzert von Wolf Biermann und seiner Ausbürgerung aus der DDR gewesen war. Alle raunten irgendwie herum, und die Lehrer beantworteten Fragen, die kein Kind gestellt hatte. Es war auch der Tag, als der Geografielehrer, der zum Jähzorn neigte, auf einer Bank in der ersten Reihe, die zum Glück unbesetzt war, seinen Zeigestock kaputt schlug, sodass die Splitter durch den ganzen Raum flogen. Ich weiß nicht mehr, warum, wegen meines Vortrags war es jedenfalls nicht, obwohl ich nicht wusste, ob ich Geysire »Geisiere« mit »ei« oder »Geesiere« mit langem E aussprechen sollte. Aber der Geografielehrer wusste es auch nicht. Es hat dann dreiunddreißig Jahre gedauert, bis ich nach Island kam und man mir

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