Mit der Linie 4 um die Welt
Backsteinbau aus dem neunzehnten Jahrhundert. In einem Vorgängerbau hat der junge Johann Gottfried Herder als Pfarradjunkt gearbeitet, bevor er 1762 mit dem Schiff Riga verließ und schließlich als Wolf im Schafspelz Einfluss erst auf den Sturm und Drang und dann auf die Weimarer Klassik nahm. In seiner Rigaer Abschiedsrede sprach er darüber, wie eingeschränkt er sich fühlte in den gesellschaftlichen Kreisen, denen er zugehörig war. Er litt unter seinem eigenen Standesdünkel. »Ich gefiel mir nicht, als Bürger, da meine häusliche Lebensart Einschränkungen, wenig wesentliche Nutzbarkeiten und eine faule, oft ekle Ruhe hatte.« In Riga legte Herder die Grundsteine seines Werks, hier konnte er die Vielschichtigkeit der Völker studieren, die für ihn gleichwertig waren und fähig zu Bildung und Humanität. Das war alles andere als selbstverständlich in einer Stadt, in der eine strenge Hierarchie herrschte. Bis ins letzte Drittel des achtzehnten Jahrhunderts hatten die Deutschen eine Hegemonialstellung in der Stadt. Bis 1877 gab es eine ständische Verfassung, die Letten vom Wahlrecht ausschloss. Unter der russischen Städteordnung, wurden die Wahlklassen nach dem Steueraufkommen bestimmt. Auch noch unter dem danach herrschenden Zensuswahlrecht waren Juden und Letten ohne Grundbesitz ausgeschlossen von der Wahl, was dazu führte, dass es 1897 bei zweihundertsiebzigtausend Einwohnern nur dreitausendfünfundsiebzig Wahlberechtigte gab. Mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 wanderten viele Deutsche ins Mutterland aus, der Anteil der deutschen Bevölkerung an der Gesamteinwohnerzahl Rigas sank von der Hälfte, 1867, auf ein Viertel, 1897. Die Letten waren in dieser Zeit das, was in Berlin um die Jahrhundertwende die Schlesier und Galizier waren. Sie kamen vom Land und passten sich dem Stadtleben sehr schnell an. Sie lernten Deutsch, nahmen niedere Arbeit an, versuchten, ihren Status zu verbessern, und bildeten sich, wo es ging. Sie wurden Rigaer und blickten nun selbst auf die Bauern herab.
Die Zeit nach der Unabhängigkeit Lettlands 1918 gilt als zweite Blütezeit in der der Geschichte der Stadt. Sie währte bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939, der das Baltikum und mit ihm Lettland dem sowjetischen Einflussgebiet zuschlug. Die Deutsch-Balten wurden 1939 in das Warthegau umgesiedelt. Von 1941 bis 1944 war Riga von der deutschen Wehrmacht besetzt, bis die Rote Armee es rückeroberte und Riga für siebenundvierzig Jahre Hauptstadt der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik wurde. Seit 1991 ist sie die Hauptstadt Lettlands.
»Es gibt diese Straße, aber es gibt keine Freiheit«, hat jemand an eine Brandmauer gesprüht. Nicht weit davon lag zu Sowjetzeiten der Hauptsitz der Staatssicherheit. Vor das Gebäude hat man ein wuchtiges Denkmal gestellt, eine verschlossene Eisentür auf einem Sockel.
»Wenn du kommunikativ bist und dir die Arbeit mit Menschen gefällt, komm und arbeite als Schaffner.«
Ständig klingeln im Bus Telefone, auch bei den vier älteren russischen Damen, die in einer Gruppe zusammensitzen. Sie halten ihre Plastetüten mit Blumenmotiven eng an den Körper gedrückt, als wären es echte Krokoledertäschchen, die sie vor dem Diebstahl bewahren müssten. Viele Russen sind nach der Unabhängigkeit des Landes zwar geblieben, haben die lettische Staatsbürgerschaft aber nicht und sind somit nur Bürger zweiter Klasse. Um die Staatsbürgerschaft annehmen zu können, müssen sie eine Prüfung ablegen, egal, wie lange sie schon in Lettland leben. Gefordert sind Grundkenntnisse der lettischen Sprache, Geschichte und Kultur. Auch die lettische Hymne muss in allen Strophen beherrscht werden. Vor der Prüfungskommission muss man sogar sein Wissen über das Gedicht Lāčplēsis, dem lettischen Epos vom Bärentöter, der sich fremden Invasoren entgegenstellt, nachweisen. Der Test ist nicht schwierig, aber viele, vor allem die älteren Russen, empfinden ihn als demütigend. Weil der lettische Pass nicht nur von Vorteil ist, man braucht für jede Reise nach Russland ein Visum, bemühen sich viele auch gar nicht darum. In den öffentlichen Verkehrsmitteln erkennen sich die Russen, ohne miteinander zu reden, und bilden russische Exklaven im lettischen Trolleybus.
Die Busfahrerin trägt eine blonde Dauerwelle, deren Locken wie ein Helm abstehen. Ihre Lippen sind rot geschminkt. Sie hat aus ihrem zwei Quadratmeter großen Arbeitsplatz ein gemütliches Wohnzimmer gemacht, mit Perlengardinen an den
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