Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
Vom Netzwerk:
Staaten dagegen ist der Trolleybus ein zuverlässiges Transportmittel. Allein in Riga, das am 6. November 1947 den ersten in Dienst stellte, gibt es zwanzig Linien, die von tschechischen Škoda-Bussen bedient werden. Sie sind blau-hellblau-weiß lackiert. Manche sind schon sehr alt und knacken bei jedem Schlagloch. Wie auch dieser, der in Richtung Neustadt fährt.
    Die Neustadt ist eine einzigartige Ansammlung von Jugendstilgebäuden. Zwischen 1900 und 1914 wurden tausendfünfhundert Häuser in Riga gebaut. Wenn man hier aussteigt und durch die Nebenstraßen geht, wähnt man sich in Budapest, Wien oder Paris, nicht aber an der Peripherie von Europa. Der Gründerzeitgürtel von Berlin mit seinem inflationären Gebrauch von stilistisch schwer in Einklang zu bringenden Stuckornamenten ist popliges Stümperwerk gegen den hier eher aus der Funktion heraus entwickelten Schmuck der Häuser. Bedeutendster Baumeister war der Vater des Filmemachers Sergej Eisenstein, Michail Eisenstein, von dem es noch eine Reihe Bauten in der Neustadt gibt. Da in Sowjetzeiten kein Geld für Renovierungsarbeiten vorhanden war, die im Westen, getreu dem Schlachtruf: »Ornament ist Verbrechen«, meist mit einer Rauputzfassade endeten, können die Gebäude heute originalgetreu wiederhergestellt werden, falls sie nicht der Spekulation zum Opfer fallen. Die gibt es reichlich in dem Viertel, aber es braucht die Studenten, das weltberühmte Theater Jaunais Rīgas teātris unter Alvis Hermanis und die unklaren Lebenskünstlerexistenzen vorerst noch, um es aufzuwerten. Aber es ist zu befürchten, dass das Viertel so enden wird wie der Prenzlauer Berg von Berlin, wo es nur noch Menschen im mittleren Alter mit mittlerem Einkommen und mittleren Meinungen gibt.
    Andres Just, ein junger Mitarbeiter des Okkupationsmuseums am Rande der Altstadt und mein Begleiter, hat Deutsch mithilfe der Simpsons auf Pro 7 in einem kleinen Dorf an der Grenze zu Estland gelernt. Seine alleinerziehende Mutter arbeitete bei der Mordkommission. Da hatte er Zeit zum Fernsehen, falls sie ihn nicht vorsichtshalber zu ihren Einsätzen mitnahm. Manchmal zieht er die Augenbrauen hoch, wenn er etwas mainstreammäßig, spießig oder poplig findet. Er kennt sich aus in der Stadt, wohnt in einer Wohngemeinschaft in der Neustadt. Andres sagt Sätze wie: »Das Meer ist eine Antwort auf alles.« Das mag man in Riga gern glauben, ist es doch eine Stadt, in der es nach Meer riecht, wo man, falls man nicht mit der Elektritschka in die einst mondänen Badeorte von Jūrmala juckeln will, mit einem Linienbus bis an den Arbeiterstrand kommt. Dort ist es auch im August fast leer, an der Küste verrotteten Fabrikanlagen.
    Die Trolleybuslinie 4 endet nicht am Meer, nur am Waldrand, und nach der Kurve von der Merkelstraße kommend, geht es immer die lange lange Straße lang, die Brīvības, Freiheitsstraße. Am Esplanade-Park, Brīvības Nr. 23, gleich hinter der Kurve, steht eine wuchtige orthodoxe Kathedrale, Pareizticigokatedrale auf Lettisch, im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts errichtet, als die Russen ihre Landmarken setzten. In der Sowjetzeit war sie ein Planetarium, nicht die schlechteste Form der Umwidmung, allerdings hat darunter die reiche Ausstattung gelitten. Von hier aus konnte man die Sputniks und Wostoks beobachten, die zu Sowjetzeiten statt Gott den Himmel beherrschten. Inzwischen ist er in die Kathedrale zurückgekehrt und teilt sich den Himmel mit dem Weltraumschrott. Auch das 1935 während der ersten Unabhängigkeit Lettlands errichtete Monument der Freiheit, das am Anfang der Straße steht, wurde nur dank eines findigen ZK -Mitglieds in Sowjetzeiten durch Umwidmung vor dem Abriss bewahrt.
    Auf der Straße der Freiheit zieht die ganze Geschichte des Landes vorbei. Ihr Weg, auf dem schon früh öffentliche Verkehrsmittel fuhren, war immer derselbe, nur der Name der Straße wechselte oft. Pferdewagen, Droschken, Straßenbahnwagen und Trolleybusse fuhren auf der Großen Sandstraße, der Alexanderstraße, der Revolutionsstraße, der Adolf-Hitler-Straße, der Freiheitsstraße, der Leninstraße und schließlich wieder der Freiheitsstraße bis zur Stadtgrenze. Erst ist sie Boulevard, dann Straße, dann Allee. Die Nummerierung zieht sich bis zum Ende durch, auf der rechten Seite die geraden, auf der linken die ungeraden Hausnummern.
    Von der Straße der Freiheit aus kann man an der Gertrudstraße, auf Höhe der Nr. 51, die Alte Kirche der heiligen Gertrud sehen, ein neogotischer

Weitere Kostenlose Bücher