Mit der Linie 4 um die Welt
die richtige Aussprache beibrachte.
Auch das nahe am Ufer stehende schlichte, aber schöne Holzhaus, das gerade renoviert wird, hat mit der Ost-West-Geschichte zu tun. Hier trafen sich 1986 Michail Gorbatschow und Ronald Reagan zu Gesprächen über Abrüstung und Zusammenarbeit, einer der Anfänge des Endes des Kalten Kriegs. Ein symbolischer Ort, driften doch amerikanischer und europäischer Kontinent in Island aufeinander. Die Stelle, wo die Spalte zu sehen ist, habe ich gestern mit dem Botschafter und zwei anderen Deutschen besucht. Der Botschafter, gekleidet wie ein Jäger, fuhr wie ein Henker. Dabei redete er ununterbrochen. Die Winde legten sich auf das Auto, das, obwohl ein schwerer Geländewagen, mächtig anzukämpfen hatte gegen die Naturgewalten.
Die 4 fährt von Hlemmur im Norden Reykjavíks in Richtung Südosten bis Fell. Vierundvierzig Minuten dauert eine Fahrt. Die Hälfte der Strecke führt über die Fernverkehrsstraße zum Flughafen. Die Isländer, so hat mir der Botschafter erzählt, fahren jeden Weg, dessen Ende vom Ausgangspunkt nicht zu sehen ist, mit dem Auto. Es ist aber wenig Verkehr. Besiedelte Flecken wechseln sich ab mit leeren Flächen, hinter denen oft die Meeresbuchten aufblitzen, ehe wieder Häuser den Blick verstellen. Die großen leeren, zerklüfteten Flächen, auf denen nicht mehr als Moose wachsen, erinnern an Grind. Man möchte daran herumpolken. Gletschererosionen und Erdbeben werden über SMS gemeldet, die an alle Handys gehen, die in die Netze des Landes eingeloggt sind.
Einige der Wohnsiedlungen rechts und links der Straße sind neu, die meisten von ihnen stehen leer. Es sind Fondswohnungen, entstanden in der Zeit der Finanzblase und nun unverkäuflich. Immer noch drehen sich Kräne, und alles wird mit Kreditkarte bezahlt, außer der Busfahrschein. Unterwegs gibt es keine Graffiti, keine wilden Plakatierungen und kaum Werbung. Der Bus fährt an einem großen Einkaufszentrum vorbei, aber auch hier steigen nur wenige Leute ein oder aus.
Ich muss plötzlich an die Frau denken, die mir gestern in der deutschen Botschaft ihre Lebensgeschichte erzählt hat. Ihr Vater, ein Deutscher, war 1937 als Glasschleifer aus Thüringen nach Island gekommen. Eigentlich wollte er nach Dänemark, aber seine Annonce war auch in Island gelesen worden. Ihre Mutter arbeitete als Dienstmädchen in der deutschen Botschaft. Hier lernten sich ihre Eltern eines Tages kennen und wurden ein Paar. Als die Engländer Island besetzten, musste die Mutter in der Badewanne des Botschafters Passbilder verbrennen. Sie wurden auf einer englischen Insel interniert, wo meine Erzählerin 1941 geboren worden ist. Nach Kriegsende durfte die Familie nicht mehr nach Island zurück und ging nach Jena, wo die Mutter Köchin bei den Russen und der Vater Glasschleifer im Carl-Zeiss-Werk wurde. Inzwischen kam ein jüngerer Bruder zur Welt. Der Vater hielt es aber nicht in Jena aus und schaffte es 1949 zurück nach Island. Die Mutter bekam für sich und ihre Kinder keine Ausreisegenehmigung, und so flohen sie heimlich über Westberlin und von dort mit dem Zug nach Dänemark und weiter mit dem Schiff nach Island. Als meine Erzählerin volljährig geworden ist, musste sie sich für eine der Staatsbürgerschaften entscheiden, die deutsche, britische oder isländische. Seitdem ist sie Isländerin. Die Deutschen stellen die viertgrößte Minderheit nach den Polen, Dänen und Philippinos.
Ich habe nicht bemerkt, dass der Bus Reykjavík verlassen hat und nun durch Kópavogur fährt, die mit dreißigtausend Einwohnern zweitgrößte Stadt Islands. Auf einem Hügel steht ein imposanter Bau der Moderne, eine Kirche, die aussieht, als hätte man die Rümpfe von mehreren weißen Segelschiffen umgedreht und ineinandergesteckt. Am Fuß des Bergs ist eine Sammelhaltestelle, Hamraborg, wo die Busse aufeinander warten. Und sie warten ewig aufeinander. Der Busfahrer stellt den Motor ab. Als nach fünfzehn Minuten noch nichts passiert ist, steige ich aus, um mir die Füße zu vertreten. Vor dem Kulturzentrum des Orts stehen große Aufsteller, in die Metallplatten sind Gedichte eingraviert. Bezogen auf die Einwohnerzahl hat Island wohl die größte Dichterdichte der Welt, mit sogar einem Nobelpreisträger. Vielleicht fordert die Landschaft die Sprache heraus. Als ich mich umdrehe, sehe ich die 4 wegfahren. Ich gestikuliere, aber der Busfahrer nimmt keine Notiz mehr von mir. Das Kulturzentrum ist geschlossen, also laufe ich den Berg zur Kirche
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