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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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hoch. Der Wind zerrt an mir, nicht ganz so stark wie gestern, als der deutsche Botschafter uns außerhalb der Stadt Þingvellir, den traditionellen Versammlungsort des Althing, zeigte. Schon beim Aussteigen zog es uns die Füße weg, und der Wind nahm uns die Worte aus dem Mund und verstreute sie. Wie hatte man dort verbindliche Beschlüsse treffen können, wenn keiner des anderen Wort verstand?
    Kópavogskirkja heißt die Kirche, und eigentlich müsste sie laut Plan geöffnet sein, aber alle Türen sind abgeschlossen. Ein Blick durch das Fenster zeigt, dass sie innen mit der gleichen Klarheit gestaltet ist wie außen. Von hier oben hat man einen wunderbaren Blick über Kópavogur, Reykjavík und Umgebung.
    Erwin Strittmatter, der in den siebziger Jahren in Island war, um den Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness zu besuchen, schrieb damals in sein Tagebuch: »Island hat mich überwältigt. Keine Korruption, stolze Menschen und hundert Tausend Pferde.« Das mit der fehlenden Korruption ist inzwischen widerlegt, und auf dem Weg hierher habe ich kein einziges Pferd, außer einem Denkmal für Islandpferde gesehen. Die Menschen sind freundlich, und sie haben Respekt vor der Natur, aber stolz? Was mich überwältigt, ist die atemberaubende eiskalte Schönheit der Landschaft, wie das Blau des Gesteins in den Lagunen am Flughafen. Vom Hügel der Kirche sehen die Berge aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Aber irgendwo in ihnen brodelt es, und wenn sie zum Ausbruch kommt, zerstört die Lava alles, was ihr in die Quere kommt.
    Auch der nächste Bus, den ich besteige, um weiter in Richtung Fell zu fahren, fährt ewig nicht ab. Der Fahrer weiß nicht, was ich von ihm will, als ich ihn auf Englisch frage, wann es weitergehe. Die Dämmerung kriecht schon über die Berge. Ich werde Fell nicht erreichen, auch Berg nicht und nicht Mjódd. Ich steige aus und nehme den nächsten Bus, der aus der Gegenrichtung kommt, zurück in die Innenstadt. Im Nachhinein scheint es mir, als habe ich den ganzen Tag nicht mehr als Busfahrer gesehen. Am nächsten Morgen fliege ich zurück nach Berlin. Zwei Monate später wird der deutsche Botschafter tot in seinem Wagen aufgefunden, vermutlich bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die Küstenwache findet ihn zweihundertneunzig Kilometer von Reykjavík entfernt in einem Fluss. Wiederum zwei Monate nach seinem Tod bricht auf Island der Vulkan Eyjafjallajökull aus und legt den Flugverkehr in ganz Europa lahm.

Die lange lange Straße
der Freiheit lang
    Riga, Lettland
    S ex and the City -Kolumnistin Carrie Bradshaw mit ihrer Manolo-Blahnik-Manie ist gar nichts gegen die Frauen von Riga. Sie schweben auf ihren hochhackigen Pumps über die postsowjetischen Gehwege ihrer Stadt und lassen sich von den Löchern und Ritzen nicht beeindrucken, auch wenn so mancher Absatz in deren Untiefen auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Wozu gibt es Schuster? Einer hat sich unter der Eisenbahnbrücke neben dem Hauptbahnhof niedergelassen. In den Regalen des winzigen Ladens, der wie ein Schwalbennest an einem Brückenpfeiler klebt, reiht sich ein Absatz an den anderen, in allen Farben und Formen und keiner kürzer als fünf Zentimeter. Der Platz ist geschickt gewählt. Gleich nebenan halten zehn Trolleybuslinien inmitten einer osteuropäischen Budenwelt, in der es alles zu kaufen gibt, was ein Mensch zum Überleben braucht: Bimssteine, Kunstblumen, Netzstrümpfe oder Rattengift. Gegenüber ist der Zentralmarkt der Stadt, fünf ehemalige Zeppelinhallen, gefüllt mit den Köstlichkeiten der Welt und des Baltikums.
    Vor der Trolleybushaltestelle steht eine hutzlige alte Frau, das rote Kopftuch eng um den Hals geschnürt, und bettelt. Vor Scham darüber hält sie ein umhäkeltes Stofftaschentuch vors Gesicht. Sie zittert, obwohl es nicht kalt ist. Niemand wirft eine Münze auf den leeren Teller vor ihren Füßen.

© Arwed Messmer

Die Trolleybuslinie 4 kommt von der Wendeschleife an den Markthallen, um von dort aus durch die Neustadt über den Boulevard der Freiheit in Richtung Nordosten zu fahren. Die Strecke beschreibt auf dem Stadtplan einen rechten Winkel.
    »Es bedient Sie das 1. Trolleybusparkkollektiv.«
    Die Schaffnerin, bekleidet mit weißer Bluse und bordeauxroter Weste, sitzt erhöht wie auf einem Thron, der ihr erlaubt, ihre Schäfchen zu überwachen. Ihr Foto auf dem Ausweis, der über ihrer Brust klemmt, zeigt eine zehn Jahre jüngere Frau, die ihr ähnlich sieht. Die Schaffnerin streicht einem

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