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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Seitenfenstern, Plüschtieren, drei Blumentöpfen mit künstlichen Stiefmütterchen zwischen Lenkrad und Fenster und Platzdeckchen auf dem Armaturenbrett. Wahrscheinlich ist alles festgeklebt, einschließlich ihrer Frisur, denn nichts verrutscht, als die Fahrerin eine Vollbremsung hinlegt. Ein schwarzer Mercedes mit getönten Scheiben hat den Namen Freiheitsstraße zu wörtlich genommen.
    »Was du hier siehst, ist nicht die Wahrheit«, sagt Thomas Taterka, der nach der Wende von Berlin an die Rigaer Universität kam, wo er sich lange mit Garlieb Merkel befasste. »Es ist härter, als es scheint.« Die ursprüngliche Akkumulation des Kapitalismus ist inzwischen beendet, der Boden verteilt, die Konkurrenz ausgeschaltet. Kein Stein ist auf dem anderen geblieben. Die nächste Generation der Neureichen wird gewaltfrei erzogen und aufs Gymnasium und zum Klavierunterricht geschickt. Auf den Straßen aber herrscht noch das Recht des stärkeren Autos. Porsche, BMW und Mercedes, schwarz lackiert und mit getönten Scheiben, sind nach wie vor beliebte Statussymbole, die gern auch in Westeuropa geklaut werden, obwohl dieses Geschäft inzwischen in ruhigere Bahnen gelenkt ist. Im Gefängnis Tegel in Berlin jedenfalls hat die Zahl der Autoschieber stark abgenommen, was nicht an Misserfolgen der Fahnder liegt. Bei den deutschen Autos am Ende der Verwertungskette sieht es etwas anders aus. In Lettland sind nur die alten Mercedes beliebt, die noch keine Elektronik haben. Denn ein Auto, bei dem der gerissene Keilriemen nicht mit einer Feinstrumpfhose improvisiert werden kann, ist zu teuer im Unterhalt. Mercedes ist dabei, seine treuesten Kunden zu verlieren, die Motoren haben mitunter fünfhunderttausend Kilometer hinter sich gebracht, und danach fahren sie immer noch in Weißrussland, Albanien oder Kasachstan.
    An der Brücke, wo die Straße der Freiheit die Bahnstrecke zum Meer überquert, steige ich aus, um ein paar Schritte zu gehen und mir die schon etwas schiefen Fassaden der Holzhäuser genauer anzusehen.
    Gegenüber ist ein Depot, TTP – der Straßenbahn-Trolleybuspark. Neben der grünen Bretterbude, einem Kiosk ähnlich, in der die Verkehrsüberwachung untergebracht ist, haben die Angestellten ein Gärtchen angelegt. Malve und Goldrute wachsen zwischen den Benzinschwaden. Der Wind fegt Sand auf den Gehweg. Eine ältere Frau mit Kopftuch und Kittelschürze kommt heraus, holt den Reisigbesen und säubert die Straße, während die nächste Böe weiteren Sand aufwirbelt und neben den Malven ablegt. Eine Sisyphosarbeit, die aber von der Frau in einem bestimmten, nur ihr selbstverständlichen Rhythmus erledigt wird.
    Ich nehme nicht die Brücke, ich steige über die Gleise. Dahinter ist schon Vorstadt, und die Straße der Freiheit wird zur Chaussee. Das Elektrizitätswerk, das direkt an der Straße steht, hat ein ambitionierter Architekt erbaut. Es entstand in der Zeit, als Bürgermeister George Armistead die Infrastruktur Rigas veränderte, die heute die Stadt noch prägt. Die Fassade strotzt vor Ornamenten. Über dem Eingang hockt ein Prometheus mit Blitzen in der Hand, die er gegen einen Adler verteidigt. Immer wieder fallen einem die Verteilerstationen in der Stadt auf, die aussehen wie griechische Miniaturtempel, an deren Giebeln die Sonne aufgeht. Eine Zeit lang gehörten die Elektrizitätswerke der AEG , die während der Kriegszeit in der Stadt Zwangsarbeiter beschäftigte. Vor allem für die Juden war Riga das Schreckenswort, bis es Auschwitz wurde. Ab November 1941 wurden Tausende aus dem Deutschen Reich nach Riga deportiert. Die lettischen Juden waren zuvor aus dem Rigaer Ghetto getrieben und im Wald von Rumbula ermordet worden. Im Ghetto in der Moskauer Vorstadt waren die Öfen in den Wohnungen noch warm und das Essen stand noch auf dem Tisch, als die ersten Deportationszüge aus Köln, Hannover oder Kassel eintrafen. Bis November 1943 bestand das Ghetto. Bis dahin wurden Zehntausende im Wald von Bikernieki ermordet. Seit 2001 erinnert eine Gedenkstätte an den Ort der Massenerschießungen. Man kann von der Linie 4 aus bis zur Gedenkstätte laufen. Die Bikerniekistraße geht nur wenige Haltestellen hinter dem Elektrizitätswerk von der Straße der Freiheit ab.
    Ich steige in den nächsten Bus. Die Fahrerin trägt das Haar kurz geschnitten, hört Death Metal und rutscht im Rhythmus zwischen Lenkrad und Stuhl hin und her. Sie ist um die vierzig und steigt gern mit beiden Füßen auf die Bremsklötze. Dabei flucht sie laut

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