Mit der Linie 4 um die Welt
Sand zur R ’n’ B-Musik einer Liveband tanzen.
13.50 Uhr – an einer Haltestelle
namens Calea Buziaşului
Temeswar, Rumänien
A us der Straßenbahn Nr. 4, die aus Richtung Stadtzentrum kommt, steigen fünf Leute aus. Eine winzige Frau mit einem schwarzen, unter dem Kinn geknoteten Kopftuch, der die oberen Schneidezähne fehlen, ein junger Mann mit einem Fahrrad, an dem noch das Preisschild hängt, eine Frau mit einem karierten Stoffkoffer auf einem Wägelchen, das sie nur umständlich durch die Tür bringt, ein junges rothaariges Mädchen mit einer Aldi-Tüte in der Hand und zuletzt eine alte Frau mit einem Trauerkranz aus Fichtenzweigen und Nelken, der so groß ist, dass er ihr bis an die Brust reicht. Sie muss ihn mit einem leichten Stoß aus der Bahn befördern. Unten dreht er sich wie ein von der Hüfte gerutschter Hulahup-Reifen drei Mal am Boden und bleibt liegen.
Allen fünfen schlägt die Hitze entgegen, und so bleiben sie erst einmal stehen und atmen durch, bis der Kreislauf wieder in Gang kommt. Dann gehen sie, bis auf die alte Frau mit dem Trauerkranz, die länger braucht zum Verschnaufen, in verschiedene Richtungen davon. Beim Passieren des Bordsteins fällt dem neuen Fahrrad das Rücklicht ab. Der junge Mann sammelt fluchend die Einzelteile von der Straße auf, die Frau mit dem Stoffkoffer bückt sich nach dem roten Reflektor, der ihr vor die Füße gerollt ist, und wirft ihn dem Mann zu, dem es aber nicht gelingt, ihn aufzufangen. Der Reflektor fällt vor ihm in den Dreck.
© Annett Gröschner
Die Straßenbahn Nr. 4 schließt die Türen und fährt nach einem leisen Schnaufen an. An den Fenstern ist der deutschsprachige Satz »Bremer kommen immer gut an« zu lesen. Die Szene wird von zwei Trinkern beobachtet, die auf der Veranda des Blue Cafés sitzen. Das Café befindet sich im Erdgeschoss eines Gebäudes, dessen Baufluchtlinie den Verlauf des Platzes aufnimmt. Vor allem die junge Rothaarige, die jetzt am Bordstein steht und bei jedem sich nähernden Auto die Hand hebt, hat es ihnen angetan. Sie schnalzen und machen Bemerkungen in ihre Richtung. Die Frau hat keinen Blick für sie, nur für die Autos, die aber kurz vor der Stelle, an der sie steht, einem riesigen Schlagloch ausweichen müssen, das die ganze Aufmerksamkeit der Fahrer auf sich zieht. Die Frau flucht und schlägt ihre Aldi-Tüte gegen den Bordstein, wenn wieder ein Dacia mit nur einem Insassen an ihr vorbeifährt. Die Autos kommen spärlich, für eine Minute reißt die Kette ganz ab. Neben ihr stehen noch fünf weitere Menschen wartend am Straßenrand, die zahnlose Frau mit dem schwarzen Kopftuch ist dabei und auch die Frau mit dem Kranz, als hätte sie zusammen mit dem Tannengrün inzwischen Wurzeln geschlagen.
Gegenüber, vor einem völlig zerstörten und mit Balken verbarrikadierten Supermarkt, sitzen vier ältere Frauen unter einem Vordach, das von Salpeter zerfressen ist. Vor ihnen liegen auf Plasteplanen einzelne, unterschiedlich große Knollen, die so voller Erde sind, dass man nicht erkennen kann, um welches Gemüse es sich handelt. Niemand bleibt stehen, um sich die Ware wenigstens anzusehen. Die Frauen reden miteinander. Eine streicht sich unablässig die Haare aus dem Gesicht. Neben dem Supermarkt zieht sich eine Reihe Plattenbauten die Straße entlang. Die Loggien sind wie Schwalbennester an die Fassade geklebt. Vor jeder hängt Wäsche in allen Farben bis über die Brüstung, deren Farbe abgeblättert ist. Das Regenwasser hat vertikale Rostspuren von der fünften bis zur ersten Etage hinterlassen. Die Fenster hängen schief in den Angeln. Alle sind geöffnet. Aus einigen stecken ab und an Frauen ihren Kopf, um die Straße zu beobachten und sogleich wieder im Inneren der Wohnung zu verschwinden. Gardinen flattern. Unter den Bäumen zwischen den Wohnblöcken liegt ein Mann im Gras hingestreckt wie eine Leiche auf einem Schlachtfeld. Sein Mund steht offen. Fliegen krabbeln über Lippen und Nase, einige auch in Nasenlöcher und Mund. Sein Brustkorb hebt und senkt sich leicht. Zwei kleine Mädchen schlendern an ihm vorbei, in jeder Hand eine gefüllte Wasserflasche. Zwei Jungs mit Mopeds, auf deren Gepäckträger jeweils ein Bierkasten befestigt ist, knattern die Straße entlang. Einer hält vor der Rothaarigen und bietet ihr den Sozius an. Sie lacht und zeigt auf ihren engen Rock, woraufhin der Mopedfahrer mit den Händen andeutet, sie könne ihn doch hochziehen, aber sie winkt ab, und die Mopeds fahren weiter, vorbei an
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