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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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oft angesprochen, nach dem Weg oder nach dem Familienstand gefragt oder um ein paar Münzen gebeten wird, registriert hier niemand überhaupt meine Anwesenheit, als ich an ihnen vorübergehe. Eine seltsame Spannung liegt über dem ganzen Viertel. Erst am Abend erfahre ich, dass es am Tag zuvor genau an dieser Stelle der Stadt Überfälle von Anwohnern auf die Afrikaner, meist Sudanesen, gegeben hatte. Es fiel das Wort Pogrome, auch auf den englischsprachigen Seiten israelischer Zeitungen im Internet. Pogrome und Israelis, das will nicht in meinen Kopf, und einer fragt mich am Abend, ob es irgendwas besser mache, wenn man es anders nenne. Schließlich handelte es sich um rassistische Ausschreitungen, die von einer Knesset-Abgeordneten forciert worden seien, die die Sudanesen als Krebsgeschwür in Israel bezeichnet hatte. Ein anderer Abgeordneter hatte die Deportation der Afrikaner in ihre Herkunftsländer gefordert. Ja, auch das Wort Deportation sei gefallen. Immer wieder würden Afrikaner eingesammelt und an die Grenze gefahren. Seit die Grenze zu Ägypten durchlässiger geworden ist, kommen immer mehr Flüchtlinge aus Ostafrika ins Land. Vierzigtausend sollen es allein in Tel Aviv sein. Sie schlafen unter freiem Himmel oder in völlig überteuerten und überfüllten Wohnungen.
    An der Neve-Sha’anan-Straße, wo auf einem improvisierten Straßenmarkt Hehlerware oder die letzte Habe auf Decken ausgebreitet ist, streiten sich vor einem Imbiss betrunkene Israelis lautstark mit einer Gruppe von Afrikanern. Ich habe das Gefühl, die Situation wird hier gleich eskalieren, und steige in das Scherut Nr. 4, das etwas abseits des Konfliktes auf Kundschaft wartet. Die Scheruts sind Teil der säkularen Schattenwirtschaft, betrieben von Leuten, die mit Religion nicht so viel anfangen können. Dieses Scherut der Linie 4 wird von Russen betrieben. Einer sitzt hinter dem Steuer, der andere leistet ihm Gesellschaft beim Warten, es stellt sich heraus, dass ihm der Kleinbus dahinter gehört, den er öffnet, wenn der andere weg ist. Der fährt erst los, wenn alle zehn Plätze besetzt sind. Ich bin die dritte Passagierin. Beide Fahrer haben übertrieben große goldene Uhren am Handgelenk, hören russische Popmusik und begutachten die Mädchen, die vorübergehen. Manchmal rufen sie ihnen etwas auf Hebräisch hinterher. Scherut heißt auf Hebräisch Dienst oder Service. Sie fahren auch am Sabbat und in der Nacht. Zu dieser Zeit sind sie etwas teurer; Fahrscheine gibt es nur auf Anfrage und eher widerwillig. 7 Schekel kostet eine Fahrt. Man setzt sich erst und gibt dann das Geld nach vorne. Für Leute, die vorne sitzen, ist das Geldweitergeben eine Arbeit. Der Fahrer hält mit einer Hand das Lenkrad fest, mit der anderen formt er eine kleine Mulde, die er rückwärts in den Fahrgastraum schiebt, bereit, das Geld, das der ihm am nächsten Sitzende reicht, entgegenzunehmen. Ist es drin, zieht er die Hand zurück, zählt die Münzen mit gekonntem Blick und holt, wenn nötig, Wechselgeld aus der Kasse und gibt es auf demselben Weg zurück, alles während der Fahrt und nach jeder Haltestelle wieder. Um nicht jeden Fahrgast darauf hinzuweisen, dass er die Tür zu schließen habe, hat der Fahrer eine lange Stange, die mit der Tür verbunden ist und an der er zieht, bis die Tür zufällt. Das Zuziehen der Tür geschieht oft erst, wenn der Bus schon längst wieder fährt. Die Scheruts sind schnell und wendig. Eingreiftruppen des öffentlichen Verkehrs und sehr begehrt. Wenn alle zehn Plätze besetzt sind, fährt er durch, bis der nächste Fahrgast aussteigen will. Manchmal lässt er überzählige Fahrgäste auch auf dem Fußboden sitzen. Aussteigen kann man überall, man muss nur rechtzeitig Bescheid sagen.
    Nach einer Runde steige ich an der Großen Synagoge auf der Allenby aus. Gleich neben einem Bankgebäude, vor dem ein kleiner Gedenkstein an den erfolgreichen Banküberfall einer zionistischen Gruppe vor Gründung des israelischen Staats erinnert, ist ein Schawarma-Imbiss, der als einziger in der Umgebung noch geöffnet ist. Es gibt nur wenig Kundschaft. Der junge Mann hinter dem Tresen fragt mich, als ich zahle, wo ich herkäme. Ich sage: »Berlin.« Er lacht: »Ah, dieses kleine unbekannte Dorf auf dem Balkan!« – »Ja, genau das«, sage ich und verabschiede mich, um mit dem 4er-Scherut voller strandfein gemachter Mädchen zum Meer zu fahren. Dort schaue ich mir den Sonnenuntergang an, vor dem junge Leute aus aller Welt völlig friedlich im

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