Mit der Linie 4 um die Welt
von dort, ich kannte mich nicht aus, mit einer Freundin mit der Straßenbahn bis zum Prenzlauer Berg fuhr. Ich dachte, die Fahrt nähme kein Ende. Wir kamen an Fabriken, Gefängnissen und einem Kraftwerk vorbei, und ich weiß noch, wie erleichtert ich war, als die Bahn hinter Ostkreuz wieder bewohntes Gebiet erreichte.
An der Haltestelle Frankfurter Tor kommen noch mehr Leute in die Bahn und drängeln sich in jede freie Ritze. Auf der Strecke zum Bersarinplatz muss der Fahrer eine Vollbremsung hinlegen. Die auf den Stehplätzen fliegen nach vorne, die Sitzenden übereinander. Als sich alle aufgerappelt haben, fangen die Spekulationen an. Wurde mit Absicht die Notbremse gezogen, ist einer über die Gleise gehupft oder unter die Bahn gekommen?
»Wenn der sich gekillt hat, müssen wir laufen«, sagt mein Gegenüber und schaut mich erneut dabei an. Es ist aber niemand gestorben, nach einer kurzen Bedenkzeit fährt die Bahn wieder an, und das fremdelnde Pärchen wird durch ein anderes ersetzt, das ihm zum Verwechseln ähnlich sieht, aber Schwedisch spricht.
Am Neuen Hain sieht man noch einzelne Feuer glimmen. Am Wochenende ist der Park manchmal so voll mit Leuten, die grillen, dass ich das erste Mal, als ich die dichten Rauchwolken sah, die Feuerwehr rufen wollte. Ich nahm an, das Unterholz des Volksparks Friedrichshain brenne.
Wie wird es hier 1928 wohl an einem Freitagabend gewesen sein? Auf jeden Fall hätte es mehr Hüte in der Bahn gegeben und eine Schaffnerin, die sich durch die Menge hätte drängen müssen. Und ganz sicher hätte sie mit ihrem preußischen Pflichtbewusstsein das Singen im vorderen Zugteil untersagt, das gerade anhebt. Es ist ein französischer Kanon. Dafür hätte es ein Raucherabteil gegeben. Ich muss aussteigen; ich bin zu Hause angekommen. Drei Penner, die in der Tür stehen, treten sehr höflich zurück, und einer drückt den Haltewunschknopf für mich. Es ist kurz vor zwei, noch früh in der Nacht.
Kilometer 4 bis 5,5: Arnswalder Platz bis Mauerpark
Communicationsweg hieß der Verbindungsweg zwischen Frankfurter Tor und Schönhauser Allee bis ins neunzehnte Jahrhundert. Die Bahn bewegt sich seit 1910 von der Warschauer Brücke bis in den Wedding, ein perfektes Kommunikationsmittel. Wenn man alle Gespräche zu einem Chor collagierte, hätte man ein Abbild der Berliner Gegenwart, das genauer wäre als Twitter, weil die Leute, die miteinander reden, so tun, als wären sie allein. Einer erzählt in breitestem Berliner Dialekt, dass er auf einem Freiluftkonzert in Mecklenburg eine Berlinerin kennengelernt hatte und gleich zur Sache kam; eine Frau schimpft ihr Kleinkind eine Bitch; eine alte Frau informiert uns über ihre Krankheiten, indem sie ihrer schwerhörigen Nachbarin von der Hüftoperation erzählt.
Rechts und links des Schienenweges in der Danziger Straße ist die Gentrifizierung in Form explodierender Mieten bei Neuvermietung angekommen. Man kann das Haus anpinseln, aber wenn man die schöne neue Tür öffnet, um auf den vorzüglich sanierten Balkon zu treten, ist da immer noch der Lärm der Straße, auch wenn die Niederflurbahnen leiser sind als die bei jeder Unebenheit in den Schienen quietschenden Gothaer Triebwagen der sechziger Jahre. Damals spuckte die Bahn an der Schönhauser Allee alle Fahrgäste auf einmal aus; es war die berühmteste und am häufigsten fotografierte Kreuzung Ostberlins, fünf Straßen treffen auf die Gleise der Hochbahn, auf der die U2 fährt. Von 1953 bis 2006 endete die 4 eine Haltestelle weiter an der Wendeschleife Eberswalder Straße.
In ihren Fünf-Minuten-Notaten Sonanz hat Elke Erb, die lange in der Nähe der 4 wohnte, ein neues, besseres Wort für Wendeschleife gefunden: »aber die Straßenbahn fuhr / noch drei Stationen und stand / an dem Umkehrbogen ohne Belang / wo der Hahnenfuß wächst Wisperndes.«
Auch den Hahnenfuß gibt es an dem heute nur noch in Ausnahmefällen genutzten Umkehrbogen. Genauso wie Labkraut, Ampfer, weißer Gänsefuß, Wicken und Flohknöterich. Bis zum Fall der Mauer war jedes Unkraut hier unerwünscht, um freie Schussbahn zu haben auf potenzielle Flüchtlinge. Nach 1961 endete die 4 nur wenige Meter von der Mauer entfernt. Wenn man an der Eberswalder Straße ausstieg, konnte man die Schulklassen aus Westdeutschland sehen, die ihren obligatorischen Berlin-Ausflug mit einem Blick in den Osten krönten. Adolf Endler hat diesen Weg auf der östlichen Seite vorbei an dem Podest auf der westlichen Seite in der Erzählung
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