Mit der Linie 4 um die Welt
Str. – Danziger Str. – Eberswalder Str. – Bernauer Str. – Strelitzer Str. – Voltastr. – Hussitenstr. – Grenzstr. – Schulzendorfer Str. – Sellerstr. – Nordhafen – Tegeler Str. – Triftstr. – Föhrerstr. – Putlitzstr. – Stromstr. – Lessingstr. – Hansaplatz – Großer Stern – Hofjägerallee – Lutzowplatz – Lutzowstr. – Flottwellstr. – Köthener Str. – Königgrätzer Str. – Hallesches Tor – Blücherstr. – Urbanstr. – und wieder: Hermannplatz.
Ich entscheide mich für einen der beiden Endpunkte der M10, Haltestelle U- und S-Bahnhof Warschauer Straße, um meine Fahrt im ersten Berlin zu beginnen.
Freitagnacht, 1.25 Uhr, stehen mehr als fünfzig Menschen auf dem Bahnsteig. Die Tram fährt um diese Zeit alle fünfzehn Minuten (wie 1928 die Ringlinie 4). Bis auf eine Flaschensammlerin, die mit einem Rollwägelchen unterwegs ist, und mich sind alle Wartenden jünger als fünfunddreißig. Es gibt unterschiedliche Grade des Betrunken- oder Bekifft- oder Anderszugedröhntseins. Weil es keine Wendeschleife gibt, muss der Fahrer an jedem Endhaltepunkt die Richtung wechseln und in das entgegengesetzte Fahrerhaus umziehen. Die Bahn steht etwas außerhalb der Haltestelle, und ich stelle mir vor, dass der Fahrer uns, die er gleich durch die Nacht fahren muss, beobachtet. Die Freitagnachtschicht ist nur etwas für BVG -Angestellte, die kommunikativ sind, sich an ihre eigenen Freitagabende mit siebzehn erinnern und Nachsicht üben. Für die anderen dürfte es anstrengend bis unerträglich sein. Als die Straßenbahn einfährt, verfallen die Wartenden vom Chillmodus in den Kampfmodus und drängen auf die leeren Plätze, als müssten sie die nächsten zehn Jahre hier verbringen. Dabei braucht die Bahn nicht viel mehr als zwanzig Minuten bis zum anderen Ende der Strecke. Um diese Nachtzeit haben die meisten Bierflaschen in der Hand, weswegen die alte Frau auch mit einsteigt, um rechtzeitig die leeren Flaschen abzunehmen, ehe sie kaputtgehen. Sie muss schon ziemlich viele eingesammelt haben, ihre Tasche klappert bei jeder Bewegung.
Mir gegenüber sitzt ein Paar, das nicht besonders harmonisch wirkt. Sie scheinen noch nicht lange zusammen zu sein, sie hat ihn mit zu einer Party genommen, er hat sich gelangweilt. Sie sehen sich nicht in die Augen, wenn sie reden, sondern schauen mich an, als wäre ich ihre Supervisorin. »Es war gut, dass dir schlecht geworden ist«, sagt er (und schaut mich an). »Ich hab das nur vorgetäuscht.« (Sie schaut mich an.) – »Ist doch egal, Hauptsache, ich war nicht schuld.« – »Wir sehen die sowieso nicht wieder.« Dann schweigen sie, bis er fragt, wie lange sie noch fahren müssten. Und dann bei jeder Haltestelle wieder. Ist wohl nicht von hier, im Gegensatz zu ihr, die leicht berlinert. In der Bahn sind jede Menge europäische Sprachen zu hören. Die Italiener sind am lautesten, die Spanier lachen viel, die Franzosen kann man kaum hören. Russisch ist gerade nicht dabei. Wenn man einen geschützten Sitzplatz hat, also nicht direkt am Gang, wo man akut gefährdet ist, Bierduschen abzubekommen, lässt sich die bunte Meute wie eine Krawallseifenoper ertragen. Die Bad Boys sind meistens Provinzkinder, die in Berlin mal so richtig die Sau rauslassen wollen, wo’s ja keiner Mutti oder Vati petzt wie zu Hause in Mühlheim oder Bielefeld. Sie kommen an der Haltestelle Grüneberger in die Bahn und schreien: »Sekt für die Nutten, Champagner für uns«, um sich beim Anfahren gleich mal langzulegen. Dann brüllen sie in ihre Smartphones Entschuldigungen: »Komme eine halbe Stunde später, stell dich schon mal an.«
Gut frequentiert war die Bahn auf der Strecke immer, auch zu DDR -Zeiten, als sie erst an der Revaler Straße einsetzte, weil die Reko- und später die Tatra-Wagen eine Wendeschleife brauchten. Sie holte morgens die Menschen aus den Wohnungen im Prenzlauer Berg und Friedrichshain ab und verteilte sie weiter auf den Tangentialen der Schönhauser und Prenzlauer, der Landsberger und Frankfurter Allee, wo sie umstiegen, um zu ihren Arbeitsplätzen zu gelangen. Nur die, die im Gaswerk oder im Glühlampenwerk arbeiteten, mussten nicht noch mal die Bahn wechseln, weil ihre Betriebe an der Strecke lagen. Neun Stunden später ging es retour. Heute fahren hier nur noch Darsteller, Dichter, Dienstleister, DJs zur Schicht. Meine erste Fahrt auf der Strecke war 1981, als ich in Schöneweide den Film Die bleierne Zeit von Margarethe von Trotta gesehen hatte und
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