Mit der Linie 4 um die Welt
Fahrer blieben in ihren Wagen, während die Schaffner und das jeweilige Währungssystem ausgetauscht wurden. Clevere Weddinger liefen ein paar Meter und stiegen an der letzten Haltestelle im Prenzlauer Berg in die Bahn, weil hier der Fahrpreis von 20 Pfennige Ost nach dem inoffiziellen Wechselkurs nur noch 5 Pfennige West bedeutete. Neben den Schaffnern mussten auch die Ostberliner Straßenbahnfahrerinnen an der Eberswalder Straße aussteigen und ihren männlichen Kollegen Platz machen, denn in Westberlin waren Straßenbahnfahrerinnen nicht zugelassen; angeblich war die Arbeit zu schwer. Die Ostberliner Verkehrsbetriebe waren da aus Personalmangel fortschrittlicher. Als die BVG -Ost das Verbot missachtete und Frauen in den anderen Sektor fahren ließ, wurde am 16. Januar 1953 der sektorenübergreifende Straßenbahnverkehr ganz eingestellt. Auf Westberliner Seite verwandelte sich die 4 in die 2, die bald wieder den Ring in Westberlin von Strelitzer Straße bis Wiener Straße abfuhr.
Eines der traurigsten Fotos aus der Zeit nach dem Mauerbau ist das eines einsamen Triebwagens der Linie 2 vor der Mauer, unter der noch die Schienen durchlaufen, rechts die bis in den vierten Stock zugemauerten Häuser der zu Ostberlin gehörenden Seite der Bernauer Straße. Ab 1963 wurden die Ruinen mitsamt den Verankerungen für die Straßenbahndrähte abgetragen, die zugemauerten Erdgeschosszonen dienten noch jahrelang als provisorische Grenzmauer. Heute ist der Todesstreifen Bestandteil der Freiluftgedenkstätte Berliner Mauer, zu der auch wieder die Schulklassen aus ganz Deutschland kommen. Auf Fotos aus den sechziger Jahren ist die Bernauer Straße fast menschenleer. Noch nicht einmal Autos standen am Straßenrand. Nur ein paar Kinder streiften durch die Straße, ein paar Westberliner Polizei- und Zollbeamte, die auf diesem Niemandsland der Geschichte ihren Grenzdienst versahen, der bis auf ein paar spektakuläre Fluchtversuche oder Tunnelbauten im Wesentlichen langweilig war. Dazwischen kam alle paar Minuten eine 2 vorbei, bis 1964 der Straßenbahnbetrieb im Wedding und bald in ganz Westberlin eingestellt wurde. Die Bewohner des Viertels um die Brunnenstraße auf der Westseite waren in eine geografische Sackgasse geraten, an drei Seiten von der Mauer umgeben. Das Quartier bot sich an für städtebauliche Experimente, zumal es der Wahlkreis des damaligen Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt war. Er gründete das erste Stadterneuerungsprogramm Westberlins, das bald Kahlschlagsanierung genannt wurde: Neununddreißigtausend Menschen mussten ins Märkische Viertel im Norden und in die Gropiusstadt im Süden ziehen. Die alten Häuser wurden mit der Begründung abgerissen, sie entsprächen »nicht den städtebaulichen Vorstellungen und Erfordernissen einer entwicklungsorientierten Stadt«. Also wurden neue Häuser gebaut, die schon von Weitem dünnhäutig aussehen und wie nur zum Schlafen gemacht. Man kommt an ihnen vorbei, wenn man den Bus 247 nimmt, der etwas abseits der alten Linienführung der 4 durch das Viertel um den Vinetaplatz fährt, ein Name wie eine Metapher.
Heute verläuft wieder eine Mauer durch die Bernauer Straße, Zyniker nennen sie Latte-Macchiato-Äquator. Diese Grenze ist unsichtbar. Während sich auf der östlichen Seite die Gutbetuchteren auf dem ehemaligen Todesstreifen in nagelneuen Luxuswohnanlagen einmauern, gehört die gegenüberliegende Seite zu den ärmsten Vierteln der Stadt. Viele Migranten wohnen dort, Abkömmlinge derer, die vor fünfzig Jahren als Arbeitskräfte für die Weddinger Fabriken angeheuert wurden, weil die Ostberliner Arbeiter als billige Arbeitskräfte durch den Bau der Mauer ausfielen.
Seit 2006 kommt man mit der M10 bis zum Nordbahnhof. Eine Haltestelle vor der heutigen Endhaltestelle fuhr die Bahn bis 1964 kurz vor der Versöhnungskirche an der Bernauer rechts in die Strelitzer. Auf den ersten Blick erinnert dort nichts mehr an eine Straßenbahn. Sie ist vom öffentlichen Nahverkehr abgeschnitten. Erst wenn nach hundert Metern aus der Strelitzer Straße die Watt wird und grobe Pflastersteine das Fahrradfahren mühsam werden lassen, gibt es Spuren einer Straßenbahn. Das Pflaster der Straße ist diagonal gegliedert. Nur da, wo einmal die Schienen waren, liegen die Pflastersteine in Reih und Glied. Auch hier verschwanden die Oberleitungen, als die Häuser, an denen sie befestigt waren, in den sechziger Jahren abgerissen wurden. Geblieben sind nur öffentliche Gebäude wie Schulen. Man
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