Mit der Linie 4 um die Welt
Arbeitsplätze. Trotzdem ist der Betrieb mit fast fünftausend Arbeitsplätzen der größte im Wedding, mit großem Vorsprung vor all den anderen. Der Wedding ist kein Arbeiterbezirk mehr, weil es kaum noch Industriearbeitsplätze gibt. Aber ein Bezirk der Armen ist dieses dritte Berlin, durch das die 4 kam, immer noch.
Kilometer 9,3 bis 11,1: Schering bis Westhafen
Die Linie 4 und später auch die 2 fuhren bis 1964 durch die Sellerstraße, wo heute keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr fahren; sie sind auf die parallele Fennstraße ausgewichen, die nach Moabit führt. Rechts erstrecken sich die Produktionsbereiche von Schering (oder sollte ich besser Bayer HealthCare Pharmaceuticals sagen?), links ist ein Umspannwerk in der schönen Klinkerarchitektur, in der alle einstigen BEWAG -Gebäude gebaut wurden. Durch den niedrigen Bewuchs kann man das Bundeswehrkrankenhaus sehen, das schon auf östlicher Seite liegt und entweder dem Militär oder, wie zu DDR -Zeiten, der Polizei gehört hat. Es war ein berüchtigtes Krankenhaus, in das die Flüchtlinge mit Schusswunden gebracht wurden, weil hier das Personal keine Fragen stellte. Nebenan entstehen Townhouses auf dem ehemaligen Todesstreifen.
Das Gelände von Schering wird südwestlich durch den Nordhafen begrenzt, einer von mehreren Häfen im Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal. Er war Teil eines ausgeklügelten Kanalnetzes, das bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die Stadt mit Baumaterial, Lebensmitteln und Brennstoffen versorgte. Heute hat der Wasserweg seine Bedeutung verloren. 1966 wurde der Hafen geschlossen und zu einer Grünanlage umstrukturiert. Das Hafenbecken könnte man für einen See halten mit seinem Schilf und dem dichten Unterholz ringsum, und am Kai stehen die Angler. Das Wasser stinkt brackig, schmutzig ist es auch. Ich traue mich nicht zu fragen, ob die Angler ihre Fische essen oder ob das nur ein Freizeitspaß, ein Üben in Geduld ist. Kein einziges Schiff ist auf dem Wasser oder ankert am Ufer. Kaum zu glauben, dass man mitten in einem Bezirk in Citylage ist. Die 4, die am Ufer des Hafengeländes entlangkam, als noch niemand hier angelte und wahrscheinlich nicht einmal ohne Betriebsausweis bis an das Wasser treten konnte, überquerte die Fennstraße, hinein in die Tegeler Straße. Heute muss man unter den riesigen Betonpfeilern der Brücke, auf der die Bahnstrecke Gesundbrunnen–Hauptbahnhof und die S-Bahn verlaufen, hindurch. Dahinter beginnt der Sprengelkiez, ein nach der Sprengelstraße benanntes Viertel im Wedding.
Es ist ein erstaunlich angenehmer Ort. Zwar liegt er auch im Gründerzeitgürtel der Stadt, aber die Gentrifizierung scheint bisher nicht Einzug gehalten zu haben. Es gibt noch gleichermaßen Alte und Junge, Zugewanderte aller Hautfarben und Alteingesessene, die in Andys Bierstube sitzen. Die Geschäfte in der Tegeler Straße bieten Wetterkleidung, solide Umzüge oder Pokale und Ehrenpreise, aber auch Longboards und Dartspiele an. Vor dem Angelbedarfsladen können Angler außerhalb der Öffnungszeiten Maden aus alten Zigarettenautomaten ziehen. Es herrscht eine friedliche Koexistenz zwischen dem Sportlertreff bei Bernd und Cafés, die leicht szenig aussehen wie das Rosenberg, wo aber trotzdem die älteren Nachbarn mal kurz auf ein Bier vorbeikommen. Da fallen dann Sätze zum Mitschreiben wie: »Die Portugiesen hängen auch am letzten Zwirnsfaden.« Alles, was in angesagten Altbauvierteln immer so von Ehrgeiz zerfressen und angestrengt wichtigtuerisch aussieht, wie beispielsweise die Kinderaufzucht, wird hier mit selbstverständlicher Beiläufigkeit behandelt. Keine Prenzlwichser weit und breit, jene egozentrische Hassfigur aus der Seifenoper Gutes Wedding, schlechtes Wedding, des um die Ecke gelegenen Prime Time Theaters, das modernes Volkstheater macht und bei öffentlichen Förderungen immer leer ausgeht, weil es für ein Boulevardtheater gehalten wird.
Weil der Sprengelkiez erst nach dem Abriss einer Industrieanlage Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut wurde, gibt es nur wenige der für den alten Wedding typischen Mietskasernen, sondern auch genossenschaftlichen Reformwohnungsbau und großbürgerliche Prachtbauten am Wasser, die ich eher in Charlottenburg ansiedeln würde.
Die Ost-West-Ringlinie ist hier durch den Bus 142 ersetzt, der durch die Tegeler Straße zum Hauptbahnhof fährt. Ein Auto darf nicht im Weg stehen, denn dann kommt der Bus nicht durch die schmale Straße. Aber er fährt nur alle zwanzig Minuten und
Weitere Kostenlose Bücher