Mit der Linie 4 um die Welt
Bobbi Bergermanns Vormittagsweg beschrieben (die Anthologie, in der ich sie gefunden habe, habe ich auf meiner Fahrt mit der 4 in Hannover in einem Einkaufscenter aus dem Regal Bücher zum Mitnehmen und Borgen gezogen): »… drei menschenleere Straßen, ein halbierter STERN , laufen zu auf ein dichtes Menschenknäuel, die Plattform nahezu sprengend, Gedrängel, Gemurmel, Gespräch. Wer um 10 Uhr vormittags an dieser Stelle zwischen dem FISCHGESCHÄFT der HO und dem CLUB DER VOLKSSOLIDARITÄT seinen Kurs zu ändern sich anschickt, um in nördlicher Himmelsrichtung nicht, sondern östlicher weiterzuschreiten, eine Minute nach zehn, kann mit einem angehobenen, wie hochgekurbelten, einem großen und gefesselten Publikum rechnen, das ihn bange erwartet hat: jene dort oben, die entweder mit bloßem Auge die Vorgänge in der Schwerdter, Odenberger und Eberswalder verfolgen oder aber mit Opernguckern, Feldstechern, ausziehbarem Fernrohr sogar. … Man will was zu sehen kriegen: mich – … Denn außer Bobbi Bergermann ist kein anderer zurzeit unterwegs zur Post oder zur Straßenbahn …«
Einige, die hier über die Mauer wollten, kamen mit der 4. Jeder dieser Fluchtversuche wurde dokumentiert. So stand der siebundzwanzigjährige Manfred B. am 28. Januar 1969 gegen 19 Uhr neben dem Toilettenhäuschen der BVG an der Wendeschleife der 4 und war sich nicht sicher, ob er die Flucht wagen sollte. Hinter ihm war nichts mehr, die Familie zerrüttet, die Arbeit eintönig, er hatte sechs Bier und sechs Weinbrand intus, genug Mut also. Nach einer Stunde schlich er zur Abzäunung des nahe gelegenen Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportparks und überstieg den zwei Meter hohen Streckmetallzaun, nach kurzem Überlegen auch den Warnzaun, der ein Signal auslöste. Manfred B. wurde verhaftet, wie die meisten, die es an der Stelle versuchten.
Heute ist dieser Ort als Mauerpark überall in der Welt bekannt, vor allem unter Berlin-affinen Jugendlichen.
Bis in die Nachkriegszeit war dieses Gelände zwischen Wedding und Prenzlauer Berg ein Güterbahnhof, der es zum Personenbahnhof nicht gebracht hatte. Mit der Festlegung der Sektorengrenzen am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Gelände das am besten bewachte der Welt. Wedding gehörte zum Westen und Prenzlauer Berg zum Osten, obwohl das heute kaum einer mehr glauben mag. Der Mauerpark war der Todesstreifen.
Wenn die M10 an schönen Sonntagen oder in Wochenendnächten hier hält, ergießt sich ein Strom von Menschen aus der Bahn und verteilt sich über die Fläche des Parks. Er übt aus unerfindlichen Gründen, es gibt viel schönere Parks, eine magische Kraft aus auf die Jugend aller Kontinente. An manchen Sommerabenden glaubt man, niemand wäre mehr irgendwo anders und kein Quäntchen Rasen mehr unokkupiert. Seit Jahren kämpfen Freunde des Parks um eine Erweiterung des Geländes. Sie scheiterte bisher daran, dass sich die beiden Bezirke Mitte und Pankow, auf deren beider Gebiet der Park steht, nicht einigen können, ob ein Teil des Geländes mit Eigentumswohnungen bebaut werden soll, und wenn ja, zu welchen Bedingungen. In Berlin klagen Eigentümer ja gerne über Lärm. Und wo das Geld für eine Wohnung gereicht hat, reicht es auch noch für den Rechtsbeistand bei der Verteidigung der eigenen Interessen. Im Mauerpark aber ist es in lauen Sommernächten laut wie bei einem Fußballspiel. Hier endet das zweite Berlin.
Kilometer 5,5 bis 9,3: Bernauer Straße bis Schering
Schon bevor die Mauer gebaut wurde, war das, was nach dem Zweiten Weltkrieg von der 4 noch übrig geblieben war, in eine Ost- und in eine Weststrecke geteilt worden. Der Kalte Krieg wurde, wie um so vieles andere, auch um die Linie 4 geführt, die ja als Ringlinie an zwei Stellen die Sektorengrenze überquerte, an der Bernauer Straße und an der Oberbaumbrücke. Bis Oktober 1945 war es gelungen, die Straßenbahn trotz der Zerstörungen ohne Unterbrechung zwischen Warschauer Brücke und Bernauer, Ecke Strelitzer Straße fahren zu lassen, genau die Strecke, die die M10 heute nimmt. Die Richtungsschilder waren auf Russisch, rechts und links der Schienen lag alles in Trümmern, aber die Bahn brachte die Arbeiter aus Friedrichshain und Prenzlauer Berg wieder zu ihren Arbeitsplätzen im Wedding, wie immer die auch nach den großen Bombenangriffen und Demontagen aussahen. Im März 1949, in Berlin gab es inzwischen zwei Währungen, wurde an der Sektorengrenze zwischen Eberswalder und Bernauer Straße ein Schaffnerwechsel eingeführt. Die
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