Mit der Linie 4 um die Welt
kann sich kaum vorstellen, wie verdichtet das Viertel einmal gewesen sein muss. Manchmal vier, fünf Personen in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Heute ist das Viertel am Sonntag fast ausgestorben. Nur ein altes Paar geht über die Straße, er mit Schlips und Aktentasche, sie mit einem Kuchen in der Hand. Sie kommen an einem Oldtimer-Volvo vorbei. Würde man diesen Ausschnitt fotografieren, kein Historiker würde es dem Jahr 2012 zuordnen.
Die Wattstraße endet stumpf an den Fabrikmauern des AEG-Areals entlang der Voltastraße zwischen Hussiten- und Brunnenstraße. Neuntausendzweihundert Menschen arbeiteten zu Hochzeiten Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hier und im angrenzenden Areal zwischen Acker- und Hussitenstraße. In den Produktionsanlagen an der Ackerstraße wurden unter anderem Motoren für Straßenbahnen gefertigt.
Nach der Berlin-Blockade verlegte die AEG ihren Hauptsitz nach Westdeutschland. Zwar wurden hier noch Dieselgeneratoren hergestellt, aber bis Anfang der achtziger Jahre lief die Produktion aus, die AEG zog sich zurück, die letzten dreitausend Arbeiter verloren ihren Job. Jetzt sitzt in den Fabrikgebäuden der Voltastraße die Deutsche Welle, und die Mitarbeiter gehen nur noch zum Rauchen vor die Tür und verschwinden nach der Arbeit mit ihren Autos in andere Bezirke.
Mit dem Verschwinden der Häuser und der fortschreitenden Deindustrialisierung des Wedding ging die Geschichte einer Hochburg der Arbeiterkultur zu Ende, samt Werkssirenen, Stullenbüchsen, Schornsteinen, Eckkneipen und Straßenbahnen. Und nur mit Mühe lässt sich das rhythmische Stampfen, der Dampf, der Geruch nach Öl und Eisen und das Pferdegetrappel auf den Pflastersteinen rekapitulieren. Das Bimmeln der Bahn, weil wieder ein Pferdefuhrwerk auf den Schienen stand und den Verkehr der Ringlinie aufhielt, die ja auch ihren Fahrplan einhalten musste, angepasst an den Schichttakt der Fabriken. Jungen mit Ballonmützen auf Fahrrädern mit breiten Reifen. Straßenbahnen mit Reklame an der Längsseite des Dachs: »Persil – die vollendete Wäschepflege«, »Wer LUX raucht, weiß warum«, »Zum guten Bier Doornkaat aus Kornsaat«. Alles das kennt man von Schwarz-Weiß-Bildern, aber wie es wirklich war, die Geräusche und Gerüche, das muss man sich heute imaginieren.
An der Hussitenstraße öffnet sich die Stadtlandschaft. Neben dem ehemaligen AEG -Komplex erhebt sich der Humboldthain mit seinem mit dem Schutt des Zweiten Weltkriegs aufgeschütteten Bunkerberg. Hinter den Bäumen ist das Gekreische von Kindern zu hören, die im Sommerbad ihre Ferien verbringen. An der Grenzstraße zeigt der Verlauf der Pflastersteinreihe die Streckenführung der 4 an – Kurve nach links. Auf der Mitte der Grenzstraße quert sie die Nord-Süd-Bahn, die sich in die Gleise des Nordbahnhofs einfädelt. Auch hier eher spätes neunzehntes als frühes einundzwanzigstes Jahrhundert. Ein altes Stellwerk, die verrosteten Stahlträger der Eisenbahnbrücke an der Ackerstraße, nur die gelb-roten S-Bahnen fahren ohne Dampf. Links kommt der Friedhof der Dorotheenstadt in den Blick, aber nicht der berühmte mit den teuren Toten wie Brecht und Hegel, sondern sein jüngerer Bruder mit Gräbern, auf denen nichts als »Mutter« steht oder nur das Datum des Bombenangriffs, der einen Unbekannten tötete. Auf der gegenüberliegenden Seite stößt er auf den Begräbnisplatz der Französischen Domgemeinde, wo Theodor Fontane liegt, der große Berlin-Erzähler des neunzehnten Jahrhunderts. Zwischen den Friedhöfen verlief bis 1989 entlang der Liesenstraße die Mauer, von der noch ein winziger Rest zu sehen ist – versteckt und fast zugewachsen. Unmittelbar nach ihrem Bau hat eine findige und erfundene Trauergesellschaft dort den Weg durch ein Grab in den Westen, das heißt auf den anderen Friedhof, gesucht.
Die Schienenspuren führen nach rechts in die Schulzendorfer Straße, überqueren das Flüsschen Panke, das Pankow den Namen gegeben hat und ein paar Hundert Meter weiter im Nordhafenbecken endet, dann kommt wieder Asphalt und zeigt die Einmündung in eine größere Straße an. Auf der anderen Seite der Müllerstraße erstreckt sich ein Industriekomplex, ein riesiges Kreuzfahrtschiff, das am Rande des Wedding gestrandet ist. Früher war es einfach Schering, seit 1871 Berlins Pillendreherei, heute nennt es sich hochtrabend Bayer HealthCare Pharmaceuticals. Und statt des Schering-Schriftzugs prangt das Bayer-Kreuz auf der Fassade. Erst verschwand der Name, dann ein Teil der
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