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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Mietshäuser aus Betonplatten, steigen zwei Ältere ein. Die Frau hat ein weißes Schoßhündchen, das ausgiebig kläfft. Erst als Frauchen ihm einen eigenen Platz zuweist, obwohl die Bahn knackevoll ist und ihr Begleiter gehbehindert, gibt das Vieh Ruhe. Der Mann schimpft auf die Bierpreise und dann auf einen Doktor, der ihm das Knie kaputt gemacht habe, weswegen er nie wieder auf dem Bau arbeiten könne, aber jedem Cent hinterherlaufen müsse. »Die Politiker aber, denen schiebt man’s rein, auch wenn sie nichts machen. Wofür kriegt Christian Wulff 250 000 Euro im Jahr? Kannst du mir das mal erklären?« Die Frau kann und will nicht. Christian Wulff war nie länger in Bielefeld, dafür aber Gerhard Schröder, der 1966 am Westfalen-Kolleg sein Abitur ablegte. Bielefeld war viele Jahrzehnte ein Ort der Bildungsexperimente, gerade für Kinder, die aus Familien kamen, deren Mitglieder bisher nie länger als acht Jahre zur Schule gegangen waren. Von dieser Aufbruchszeit zeugen noch das Gebäude der Universität und das danebenliegende Oberstufen-Kolleg, wo Interdisziplinarität schon modern war, als noch niemand das Wort kannte. Damals hieß das fächerübergreifend. Kein Wunder vielleicht, dass ausgerechnet an der Bielefelder Universität unter Niklas Luhmann die Systemtheorie weiterentwickelt wurde und die Soziologie bis heute einen höheren Stellenwert hat als die ältere Philosophie.
    Die 4 verkehrt erst seit dem Jahr 2000 zur Universität. Angesichts der Massen, die die Bahn verstopfen und zu den Seminarzeiten wie süßer Brei vom Stadtbahnsteig über die Rolltreppen in das Hauptgebäude quellen, fragt man sich, wie die Studierenden seit der Gründung 1969 jeden Tag in die Universität und abends wieder zurückgekommen sind. Achtzehntausend sind hier eingeschrieben. Der Gebäudekomplex ist gigantisch. Von Weitem scheint es eher ein Werk für Präzisionsinstrumente oder Halbleiter als ein Bildungsinstitut zu sein. Vielleicht wollte man damit die Hemmschwelle für Kinder aus Arbeiterfamilien senken. Sie gingen jeden Morgen wie ihre Eltern zur Schicht ins Werk in die Uni. Das Erste, was man sieht, sind die Köchinnen in einer hellblau gekachelten Großküche im Erdgeschoss. Sie schrubben Herde und Tische und nebenan, unsichtbar für sie, aber nicht für die Ankommenden draußen, sitzt eine der Kolleginnen im weißen Kittel und Häubchen in der Küchenkantine und raucht. Das sieht aus wie auf den Schwarz-Weiß-Fotos von Helga Paris, die in den frühen achtziger Jahren Ostberliner Arbeiterinnen abgelichtet hat.
    Es gibt im Hauptgebäude eine zentrale Halle, von der aus alle Fakultäten räumlich erschlossen werden. Sie erinnert an einen Bahnhof, bei dem man die Gleise vergessen hat, oder an das Foyer einer gigantischen Sporthalle mit nach Alphabet geordneten Rängen. Als Attraktion gilt das Schwimmbad inmitten der Halle, um das die Tische der Mensa gruppiert sind. Man kann den Sportstudenten beim Schwimmen und Springen zusehen. Alles wirkt seltsam anachronistisch. Ich fühle mich wie rückwärts aus der Zeit gefallen, bin wieder fünfundzwanzig und zum ersten Mal in einer westdeutschen Uni. Im Moment ist gerade Wahl des Studentenparlaments, und die Kandidaten der verschiedenen politischen Richtungen stellen sich vor. Der größte Andrang ist bei den Linken. Da wippen junge Menschen mit Dreadlocks und Kapuzenpullis zu auf einem Plattenteller abgespielter Musik oder sitzen auf einem mitgebrachten Sofa, während der Vertreter des RCDS, des Rings Christlich-Demokratischer Studenten, an seinem Stehtisch sehr allein ist. Er wirbt mit einem Plakat, auf dem eine Netzspinne, ähnlich der der Bielefelder Stadtbahn, zu sehen ist. »Der RCDS sagt, wo’s langgeht.« Die Netzspinne hat genauso viele Linien wie die Bielefelder Stadtbahn, allerdings heißen die Haltestellen »Studieren mit Kind«, »BAföG« oder »Konferenzen«. Die Hauptlinie, die alles miteinander verbindet, nennt sich RCDS . Keiner interessiert sich dafür. Noch schlechter allerdings steht es um den jungen Mann ganz am Rand des Geschehens; er sieht aus wie ein junger Banker ohne Schlips, der gerade ein paar Milliarden in den Sand gesetzt hat. Er klammert sich an der Tischplatte fest, allein mit seinen Philosophen auf dem Plakat, in deren Namen er für die Wahl der liberalen Studenten wirbt. Man kann sich sicher sein, dass die beiden jungen Männer später, im wirklichen Leben außerhalb dieses Ortes, das Zehnfache der anderen verdienen und sich mit niedrigen

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