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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Umsatzsteuersätzen für Hoteliers oder Kürzungen der Sozialleistungen revanchieren werden.
    Den größten Andrang gibt es aber nicht bei der Wahl, das Wahllokal ist, um so viele Studierende wie möglich zu erreichen, mitten auf dem Hauptweg des Zentralgebäudes errichtet, sondern vor der Mensa. Eine Traube von Menschen steht um eine Vitrine. Von Weitem sieht das aus, als betrachteten sie die Nofretete, aber es sind nur vegetarische Fleischbällchen, Kartoffelsuppe, Salat und Schnitzel, die Gerichte des Tages, die da öffentlich ausgestellt sind. Seltsamerweise haben alle Kassiererinnen in der Mensa einen polnischen Akzent. Nebenan gibt es eine Sparkasse, eine Biobäckerei, eine Post, einen Dönerladen, Bücher und Schreibwaren. Gäbe es Bielefeld nicht, man käme hier auch ohne die Stadt klar.
    Das Einzige, das an Gegenwart erinnert, ist ein Display mit einer Twitterwall und eines mit den aktuellen Vorlesungen. Im Hörsaal 10 läuft »Einführung in die Kriminologie«, in H3 »Elementare Zahlen«.
    Die Uni soll in den nächsten dreizehn Jahren für mehr als eine Milliarde Euro saniert werden. In der unmittelbaren Nachbarschaft werden schon die Ersatzgebäude errichtet, damit der Umbau bei laufendem Betrieb vonstattengehen kann. Auch die Gleise der 4 werden gerade, allerdings ohne Schienenersatzverkehr, erneuert. Ich laufe zurück zur Straßenbahn.
    Auf dem Bahnsteig bietet der Imbiss Korea-Essstation frischen Kimchi an, aber die meisten kaufen die vertrauteren Nudeln und essen sie im Gehen. Eine alte Frau erklärt dem Verkäufer die Familienverhältnisse der Besitzer seines Hauses: »Der hat doch zwei Söhne mit Tochter und die auch wieder.« Der Asiate lächelt, wahrscheinlich versteht er nur Bahnhof. Auf der anderen Seite des Gleises verschwindet ein Studentenpaar eng umschlungen im Park. Das Display der Abfahrtanzeige bleibt bei 13.15 Uhr stehen. Die 4 kommt in vier Minuten, zehn Minuten lang. Als ich einsteige, um die letzten beiden Haltstellen abzufahren, bin ich alleine in der Bahn. Sie wirbt an der Außenhaut für ein örtliches Energieunternehmen: »Mit Energie für Bielefeld seit 150 Jahren.« Die ganze Bahn ist rundherum mit einer Nachtaufnahme von Bielefeld aus der Vogelperspektive beklebt, als müsse sich die Straßenbahn der Stadt, in der sie sich bewegt, vergewissern. Zwei Haltestellen noch bis zur Endhaltestelle. Rechts frisst sich der Campus der Universität in die hügelige Landschaft des Teutoburger Waldes. Wellensiek ist von Baggern verstellt. Der Rohbau der Bielefelder Fachhochschule steht schon, und auf einem Bauschild ist ein »Forschungsbau interaktive intelligente Systeme« angekündigt. »moBiel sagt Tschüs bis zum nächsten Mal.«
    Die 4 endet kurz vor dem Dornberger Auenpark auf einer Straße, die Zehlendorfer Damm heißt.
    Bei genauerem Hinsehen auf den an der Endhaltestelle aushängenden Umgebungsplan bemerke ich, dass ich mit der Bielefelder 4 geradewegs nach Berlin gefahren bin. Ich finde die Treptower, die Stralauer, die Kreuzberger und die Schöneberger Straße mit sorgsam eingezäunten Ein- und Zweifamilienhäusern, wie es zugezogene Berliner in Innenstadtbezirken wie Kreuzberg, Schöneberg und Treptow inzwischen auch gern hätten. Nur nicht zu viel offene Großstadt, da könnten die Kinder ja verdorben werden. Hallo?, frage ich in den Raum. Ist das hier wirklich Bielefeld oder meine Berliner Zukunft?

Wo es anfing
    Budapest, Ungarn
    I n Budapest fing alles an. In Budapest bin ich das erste Mal in eine Straßenbahn eingestiegen und einfach bis zum Ende mitgefahren. Ich weiß nicht mehr, welche Linie es war. Ich weiß auch nicht mehr, warum ich es getan habe. Ich weiß nur noch, dass ich an der Endhaltestelle glaubte, nicht mehr im Budapest des zwanzigsten Jahrhunderts zu sein. Und dass ich das aufregend fand, und dann, mutig geworden, noch in eine zweite Linie einstieg und an deren Endhaltestelle vor einem Industriekomplex stand. Die eben noch mit mir zusammen in der Straßenbahn gesessen hatten, gingen nun durch das große Werkstor zur Schicht. Ich war damals süchtig nach fremden, von Ideologie unverstellten Alltagen und wäre ihnen gern gefolgt, aber beim Pförtner musste man den Werksausweis vorzeigen. Ein Fahrausweis für die Straßenbahn ließ sich dagegen überall leicht erwerben.
    Als Jugendliche war ich oft in Budapest. Es war die westlichste Stadt, die mir zugänglich war – bunter, lebendiger, und sie roch besser als jede andere, die ich kannte. Ich habe mir nicht nur

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