Mit der Linie 4 um die Welt
Realismus, ja, vielleicht sogar Naturalismus verpflichtet ist. Stücktitel wie Falscher Hase oder Das Prinzip Meese lassen mich eher daran zweifeln. Jonathan Meese ist ja auch nicht echt und im Falschen Hasen nur Brot, Ei und Hackfleisch von Rind und Schwein. Auf der Tageskarte der Verkehrsbetriebe jedenfalls steht der Name Bielefeld völlig unmotiviert gleich zwei Mal, mit dem Zusatz »5000«. Egal, ich werde nur ein paar Stunden hier sein, ich habe eine Rückfahrkarte mit dem ICE nach Berlin, dessen Existenz noch niemand angezweifelt hat.
© Annett Gröschner
Die U-Bahnstation Hauptbahnhof erinnert in ihrer Architektur sehr an eine Metrostation der Linie 4 in Paris, nur ist der Bielefelder Bahnsteig kaum beleuchtet. Die Aussteigenden stolpern in der Dunkelheit über die anderen Fahrgäste, die dort stehen. Die nächste Haltestelle ist immer noch unterirdisch, Siegfriedplatz. Der Name ist kein Grund, die Bahn zu verlassen und zu gucken, wie es oben aussieht. Ich bleibe sitzen und sehe zwei junge Frauen auf die Tür zukommen, die eine ist gerade dabei, während des Einsteigens der anderen, offenbar ihre Freundin, ein Geheimnis zu verraten, als die abrupt auf dem Bahnsteig stehen bleibt und sie kurz vor Lüftung des Geheimnisses unterbricht: »Ich komme nicht mit, hab noch was anderes vor.« Und ohne den Rest der Geschichte gehört zu haben zurückbleibt. Die Türen schließen sich. Die andere steht da, als habe ihr die beste Freundin die Tasche weggerissen und sei damit abgehauen. Ihre Tasche ist aber noch da. Es ist ein Beutel aus Baumwollstoff, auf dem »Meine andere Tasche ist von Chanel« steht.
Als Nächstes kündigt die Säuselstimme aus dem Lautsprecher die Station Richard-Oetker-Halle an. Wenigstens an dem Namen Oetker kann man sich festhalten. Dr. Oetker ist real, auch wenn der Kopf auf dem Signet der Verpackungen nur ein Schattenriss in Weiß ist und die Götterspeise selbiger Firma, die wir immer im Westpaket hatten, wahrscheinlich waren die Oetker-Produkte die billigsten im Supermarkt, irgendwie nach nichts schmeckte. Einen ganzen Tag lang brauchte sie zum Festwerden in der Schüssel, in der sonst die Socken eingeweicht wurden. Und dann hatte man Glibber mit künstlichem Waldmeisteraroma im Mund. Waldmeistergötterspeise war nicht echt, weil man sich am Cumarin hätte vergiften können. Oder an Schlafsucht erkranken. Über den Urahn und Gründer Dr. August Oetker heißt es, dass er 1891, als junger Mann, nach Feierabend im Hinterzimmer einer Bielefelder Apotheke an der Verbesserung von Backpulver gearbeitet habe. Daraus wurde dann ein Weltkonzern, der sein Geld mit Backpulver und Götterspeise, inzwischen aber auch mit Pizza und Müsli verdient. Und immer noch seinen Sitz in Bielefeld hat. 1930 hat das Familienunternehmen der Stadt eine riesige Stadthalle geschenkt und sie in Erinnerung an den musisch begabten, aber im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn Richard benannt. Sozusagen eine gigantische Gruft für den jungen Erben. Auch andere Hochbegabte oder wenigstens Prominente sollen in Bielefeld geboren oder aufgewachsen sein, zum Beispiel Friedrich Murnau, Ingolf Lück, Horst Wessel, der Nazi, oder Irmgard Möller von der RAF , der Schauspieler Ulrich Wildgruber oder Oliver Welke, der die heute-show moderiert.
Angeblich, so heißt es im Internet, soll die Stadt ihr achthundertjähriges Jubiläum 2014 unter das Motto »Das gibt’s doch gar nicht« gestellt haben. Sollte es wahr sein, zeugt es zumindest von einer Begabung zur Ironie, die ja nicht jeder kleinen Großstadt zu Eigen ist. Fast genauso gut, wie der Marketingspruch der Magdeburger Touristeninformation, der leider bald wieder verschwand: »Auch Magdeburg hat schöne Ecken. Wir sagen Ihnen, wo.« Ich muss aber noch mal nachsehen, ob wirklich Bielefeld 2014 achthundert Jahre alt wird und nicht irgendeine andere Stadt.
Bei Rudolf-Oetker-Halle muss auch aussteigen, wer zum Stadion von Arminia Bielefeld will, ein Verein, den Fußballfans im Rest der Republik gerne übersehen, vor allem, wenn er in der Ersten Bundesliga spielt. Keiner, den ich gefragt habe, kann das wirklich erklären. Auch ein Teil der Bielefeld-Verschwörung etwa? Im Moment ist das, wegen seiner häufigen Auf- und Abstiege Fahrstuhlmannschaft genannte Team mal wieder ziemlich weit unten in der Dritten Bundesliga gelandet. Dort beachtet sie keiner mehr außer den einheimischen Fans.
An der Graf-von-Stauffenberg-Straße, wir Bahnfahrer sind wieder oben und ringsum lauter
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