Mit der Linie 4 um die Welt
alle ist. An einer Wand der Haltestelle klebt ein kopierter handgeschriebener Brief wie eine Flaschenpost an die Mitbürger: »Stars viel Geld geben, ist dumm. Politiker lügen mehr. Filme ohne nachgemachtes Unrecht! Bücher statt Technik. Statt Mathematik Kochen und Räder reparieren lernen. Billiger leben. Mark statt Europawährung. Ich kann zehn Tage alleine sein. J. L.« Der Schrift nach muss es ein älterer Mensch auf die linierten Seiten eines Hefts geschrieben, herausgerissen und kopiert haben. Neben mir steht eine Frau mit einem Dackel, der einen so langen Körper hat, dass man meinen möchte, er sei entweder von Giacometti geformt oder bei einem Trennungsstreit auseinandergezogen, aber nicht zerrissen worden, und am Ende hat sich die Frau durchgesetzt und ihn mitgenommen. Er schafft es kaum, in den Bus zu springen.
In der Buchhandlung des Einkaufszentrums gleich gegenüber der Haltestelle suche ich nach Büchern über Eidelstedt, Stellingen und Eimsbüttel, überall da fährt die 4. Ich erfahre in einem dieser Hochglanz-Nostalgiebücher, dass Eidelstedt ein altes Bauerndorf war, das noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von der Milchwirtschaft, Baumschulen und dem Gemüseanbau lebte, aber auch schon eine Industrie aufwies, die vor allem zu riechen war: Lacke, Holzessig, Fischkonserven und Bier. Ab 1913 gab es dort, wo heute der Eidelstedter Platz ist, auch eine Straßenbahnendhaltestelle, obwohl Eidelstedt auf preußischem Gebiet lag und erst 1937 mit dem Groß-Hamburg-Gesetz eingemeindet wurde. Die 3 fuhr bis zur Mönckebergstraße in der Hamburger Altstadt, ungefähr dieselbe Strecke wie heute der Bus Nr. 4. Die Straßenbahnlinie 4, die als eine der ersten 1910 durch die Mönckebergstraße geleitet wurde, endete in Eilbek. Nach dem Zweiten Krieg gab es sie nicht mehr. Als die Straßenbahnen in den fünfziger Jahren zunehmend dem Autoverkehr im Wege standen, wurde die Strecke nach Eidelstedt von 1959 bis 1974 schrittweise eingestellt und durch Busse ersetzt.
Es ist kalt und regnerisch, ideales Wetter zum Busfahren, wenn nur die Regenschauer nicht immer so gegen das Fenster knallten und die Sicht erschwerten, weil sie von innen beschlagen. Ich gucke wie durch ein Aquarium auf Hamburg. Jenseits des alten Eidelstedter Dorfkerns wechselt sich aufgelockerte Wohnbebauung der Nachkriegszeit mit Möbelspeichern, Baumärkten und Handwerksbetrieben ab, und dann kommt die Autobahnauffahrt Stellingen, und die ganze Umgebung macht sich ihr untertan.
In die Polster der Sitze ist das Wort »Hochbahn« eingewebt, der Name der örtlichen Verkehrsgesellschaft, die es seit 1920 gibt und die für U-Bahnen wie Busse zuständig ist. Sie hat 2001 die MetroBus-Linien in Hamburg eingeführt, die es auch in Berlin und München gibt. »Seht her, ich fahre in einer Metropole«, schreit seitdem jeder MetroBus, aber es bedeutet einfach nur, dass eine Hierarchie eingeführt wurde, zur selben Zeit, als auch in der Gesellschaft Privatisierung bei gleichzeitiger Hierarchisierung und Exklusion als Bedingung für das weitere gute Leben der Mehrheit der Bevölkerung propagiert wurde. Die einen werden MetroBusse auf begradigten Linien, sie machen also keine Umwege mehr, die anderen halten an jeder Mülltonne und fahren nur noch alle zwanzig bis dreißig Minuten, bis keiner mehr mitwill, weil man zu lange an zugigen Haltestellen wartet. Dann kann die Linie endlich abgeschafft werden.
Eine Haltestelle hinter der Autobahnauffahrt Stellingen steigen zwei Mädchen zu, die schon an der Tür durch übertriebenes Tussigehabe auffallen. Beide tragen riesige Sonnenbrillen, die ziemlich verregnet aussehen, Babydolloberteile zu Leggings und die gleichen beigefarbenen Keilabsatzschuhe aus Kunstleder. Die eine Tussi telefoniert. Als sie fertig ist, sagt die andere, dass sie einfach nicht telefonieren könne. »Ey, du bist so schlecht da drin.« Die Kritisierte rückt ein Stück weg, schaut aus dem beschlagenen Fenster und schweigt zwei Haltestellen lang beleidigt. Dann klingelt ihr Telefon erneut, und sie gibt sich sehr viel Mühe, seriös zu sprechen, was etwas Gestelztes hat. Nach jedem Satzende schaut sie die andere an, als wollte sie ihr noch ein »Bäh!« zuwerfen. Als die beiden an der Sartoriusstraße aussteigen, fällt ihr das Handy aus der Hand und zerspringt in lauter Einzelteile, was ihre Freundin zum Kreischen bringt, sodass der Fahrer nach dem Klingeln erschrocken abbremst und geduldig wartet, bis die Tussis die Einzelteile
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