Mit der Linie 4 um die Welt
Dresdens am 13. Februar 1945 bestattet. Eine Haltestelle weiter, Tolkewitz Urnenhain, steigen ein paar ältere Frauen aus. Eine hat eine Gießkanne im Korb ihres Rollators. Hinter dem Friedhof tritt die Bebauung zugunsten der Elblandschaft mit den Hängen auf der anderen Uferseite zurück. Obwohl eine Novemberdiesigkeit auf diesem Dezembertag liegt, ist der Blick malerisch.
Die Stadt liegt hinter uns.
Eine leichte Rechtskurve, und dann ist die Straßenbahn in Laubegast, einst ein Fischerdorf mit Fähranschluss, bis es 1921 eingemeindet wurde. Hier siedelten sich im neunzehnten Jahrhundert Gärtnereien und eine Schiffswerft an, und reiche Sachsen bauten sich ihre Landhäuser. aussteigen aussteigen . Hinter der Endhaltestelle Kronstädter Platz geht es leicht abschüssig hinunter zur Elbe, die sich träge in ihrem Bett bewegt. Die Wasseroberfläche ist glatt, winzige Strudel zeigen an, dass der Fluss in Bewegung ist. Die Häuser der gegenüberliegenden Niederpoyritzer Uferseite spiegeln sich im Wasser. Dort wartet eine kleine Fähre. Die Ruhe trügt, das wissen alle, die hier leben, manche seit Generationen. Bei dem großen Hochwasser im August 2002 stand das Wasser am Laubegaster Ufer 4,3 Meter hoch, überflutete die Erdgeschosse der Häuser und nahm die Gärten mit. Ein Jahr darauf wuchsen auf dem Domfelsen an der Elbe in Magdeburg Sonnenblumen und Tomaten. Aus den Dresdner Gärten angeschwemmt, hieß es, und Hunderte kamen, um die Pflanzen, die da zwischen den Steinen wuchsen, zu bewundern. Beim Spaziergang durch Laubegast, denke ich, sie könnten von hier gekommen sein. Auch das Denkmal von Friederike Caroline Neuber sieht aus, als hätte es sich längere Zeit unter Wasser befunden. Die Neuberin ist eine von zwei berühmten Frauen, Revolutionärinnen auf ihrem Gebiet, die in Laubegast gewohnt haben. Friederike Caroline Neuber hat die deutsche Schauspielkunst auf den Weg gebracht, der von der verachteten Wanderbühne über Lessing bis in die deutschen Schauspielhäuser führte, und die heute von den Bürgern – und vor allem denen ehemaliger Residenzstädte – als das Höchste an Kultur angesehen wird. Und dann war da noch Amelie Hedwig Boutard-Beese, besser bekannt als Melli Beese, die 1886 in Laubegast als Tochter eines Bildhauers und Fabrikanten geboren worden war und als Erste in Deutschland 1911 den Flugschein machte, gegen Widerstände, die bis zur offenen Sabotage reichten. Nach einer Bruchlandung im Jahr 1925 schrieb sie in ihren Abschiedsbrief: »Fliegen ist notwendig, Leben nicht«, und erschoss sich. Als Durs Grünbein noch kein deutscher Klassiker war, hat er ihr 1989 mit dem Texte, Versuch über Melli B. , ein Denkmal gesetzt.
Im August 2002, als die Elbe mit ihrem vielen Wasser ihr Bett verließ und sich einen Weg durch einen alten Flussarm bahnte, wurde Laubegast zur Insel und nur noch per Boot erreichbar. Ein paar Tage war es wieder ein unabhängiges, auf sich selbst gestelltes Gemeinwesen ohne Straßenbahnanschluss. Gregor Kunz hat in Dresden in der Mehrzahl geschrieben, dass die »kollektive Intelligenz Dresdens immer dann am besten funktioniert hat, wenn Autoritäten und Hierarchien vorübergehend abhandengekommen waren – am Ende des Jahres 1989 und während des Hochwassers 2002«. Ein wenig von dieser Anarchie meint man noch in der Kneipe Zum Gerücht zu finden. Letzte Kaschemme nennt sie sich im Untertitel. Das Haus ist alt, die Decken sind niedrig, die Tische stehen eng beieinander. Ein lustiges Völkchen kommt da Abend für Abend zusammen. Zu DDR -Zeiten war in den Räumen ein Antiquariat, zu dem auch viele Bibliophile oder gar -mane aus der Alt- und Neustadt pilgerten. 1992 machte die Kneipe auf, 2002 soff sie bis unter die Decke ab und musste vollständig renoviert werden. 2012 feiert sie ihr zwanzigjähriges Bestehen. Es gibt sogar ein eigenes Bier. An diesem Linie-4-Tag im Dezember 2011 bleibe ich dort bis kurz vor Mitternacht. Theoretisch könnte ich mir ein Boot nehmen und mich elbabwärts bis in die Neustadt treiben lassen, entscheide mich dann aber für die Bahn. An der Haltestelle Leubener Straße weist das Display der Fahrplananzeige auf eine Abfahrt in dreißig Minuten hin. Es sind null Grad, Wind und Schneetreiben. Ich kapituliere, rufe ein Taxiunternehmen an, das mit dem Slogan »freundlich – sicher – zuverlässig« wirbt. Der Dispatcher sagt in nöligem Sächsisch, das an HO -Verkäuferinnen erinnert: »In fünfundzwanzig Minuten könnte ich einen Wagen schicken.« –
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