Mit der Linie 4 um die Welt
Erst der nächste Bus fährt zur Hafencity. Ich steige aus. An der Kleinen Alster sitzt eine Gruppe junger Engländer unter der Gedenkstele für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. »Vierzigtausend Söhne der Stadt ließen ihr Leben für euch«, steht da. Mit dem »euch« können ganz sicher nicht die jungen Engländer gemeint sind. Obdachlose dösen an den Ufertreppen, und ein Opernsänger singt etwas von Carl-Maria von Weber auf der Schleusenbrücke. »Blonde Haare sind Gold wert«, sagt ein Junge, der die Füße nicht stillhalten kann, zu einem Mädchen mit goldblondem Haar, das Statusmeldungen bei facebook abgibt. »Der Typ neben mir findet meine Haare schön. GAAAAANZ süß, J«, postet sie. Der Junge hat das Mädchen aus Verlegenheit noch nicht einmal angeschaut. Der Opernsänger geht zu La Traviata über. Das Mädchen macht ein Foto von dem Jungen und lädt es hoch.
Die 4 kommt nicht. Ich verliere die Geduld und steige in die 6, die ein paar Haltestellen dieselbe Strecke fährt. An der Wand, die die Fahrerkabine vom Fahrgastraum trennt, gibt es ein gut gefülltes Bücherregal. »Ihre Buchhaltestelle«, steht da, und »Lesen und lesen lassen«. Ein Buch von Horst Bienek, Der Pferdeflüsterer, Sakrileg gibt es zur Auswahl neben Büchern, die nur noch als Altpapier zu gebrauchen sind. Ich ziehe Paul Auster aus dem Regal, Hand to Mouth , Originalausgabe. Es beginnt mit dem Satz: »In my late twenties and early thirties, I went through a period of several years when everything I touched turned to failure. My marriage ended in divorce, my work as a writer foundered, and I was overwhelmed by money problems.« Das kenne ich, ich habe das Buch in deutscher Übersetzung gelesen, obwohl ich es nicht mochte; seitenlang geht es um Baseball. Irgendwie verschwindet es dann doch in meiner Tasche.
»Um das Miniaturwunderland zu erreichen, bitte hier in die MetroBuslinie 3 umsteigen«, tönt es aus dem Lautsprecher. Das Spiegel -Hochhaus in der Brandstwiete steht leer. Die Leuchtreklame auf dem Dach wurde schon abgebaut. Verlag und Zeitschrift sind im August 2011 in ein neues Gebäude nicht weit entfernt in der Hafencity gezogen.
Eine Frau versucht, ihrem Kind den Sinn eines Zollhafens zu erklären: »Stell dir vor, du bist ein Sack Kakao, der mit einem Überseedampfer gekommen ist. Da darfst du nicht einfach so in die Stadt und zu Schokolade verarbeitet werden, du musst erst kontrolliert und gewogen werden. Und hier war der Zollkanal, wo der Sack Kakao gewartet hat, bis …« Der Rest der Nachhilfe geht in Baustellengeräuschen unter, die linke Spur der Straße wird asphaltiert. Bei St. Annen steigt die Frau mit ihrem Kind aus und wendet sich der Speicherstadt zu, die langsam in einem seltsamen Nebel verschwindet, genau wie die Elbphilharmonie, dieses Milliardengrab aus Ziegeln und Glas. Man kann sich nicht vorstellen, dass irgendwann einmal die Kräne verschwinden. Im Moment ruht der Bau mal wieder. Mit dem Verkauf der Grundstücke in der Hafencity wollte die Stadt Hamburg viel Geld verdienen und hat sehr viel verloren. In der schönen neuen Welt aus Beton, Glas und Ziegelverblendung, wie es die Gestaltungssatzung der Hafencity an dieser Stelle vorschreibt, stehen die Angestellten mit vor Kälte verschränkten Armen vor der Tür und rauchen. Ich kann mich irren, aber ich denke, sie haben alle befristete Verträge. »Mehr Freiheit bei Bankgeschäften«, schreit eine Werbung. Die meisten Geschäfte sind ohne Kunden. Nur die Verkäuferinnen schauen in die Baustellenleere. Fünfzigtausend Quadratmeter Bürofläche warten noch auf Mieter.
Die 4 überholt mich an den Marco-Polo-Terrassen, es ist die, die bis unters Dach für den Gänsemarkt wirbt. Die Gänse verschwinden um die Ecke auf einer Baustelle, wüstes Land, wo sich im Moment die Endhaltestelle befindet. Ich mag diese Neulandgebiete aus Baumaterial und Schlamm, wo man noch nicht erkennen kann, was am Ende entstehen wird, auch wenn das meiste, das bisher hier gebaut wurde, zu Recht den Beinamen Würfelhusten bekommen hat. Aber wer weiß, wie es ist, wenn die Bäume groß sind und das Wetter besser, die Büros zu Sozialwohnungen umgebaut sind und am Magdeburger Hafen Piratenschiffe ankern. Bis dahin steht am Strandkai einsam und allein das Unilever-Haus, das ganz aus Glas ist und mit dem Slogan »Offen, ehrlich, transparent« wirbt. Auch die Mitarbeiter sind durchsichtig. Man kann ihnen bei der Mittagspause auf die Teller starren (vegetarisch? Wenigstens gesund?), man
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