Mit der Linie 4 um die Welt
»Was«, frage ich, »haben Sie schon mal auf den Kalender geguckt, in welchem Jahr wir leben?« – »Ja«, sagt der am Telefon, »das weiß ich schon, aber Laubegast lohnt sich nicht für uns. Warten Sie auf die Straßenbahn.« Und das habe ich, unter Verwünschungen, dann auch gemacht.
Stell dir vor, du bist
ein Sack Kakao, der
mit einem Überseedampfer
gekommen ist
Hamburg, Freie Hansestadt
V om Wildacker in die Hafencity, so könnte ein Leben als Vorabendserie des Norddeutschen Rundfunks erzählt werden. Ein armes Naturkind, nennen wir es Vivian, man sieht es am Anfang auf einer Blumenwiese Kränze flechten, wird durch den Tod der Mutter aus der Idylle gerissen und vom bösen Onkel ein paar Kilometer weit in die Stadt verschleppt, wo es im Eidelstedter Einkaufszentrum Blumen verkaufen muss, die aus Übersee kommen und von Südamerikanerinnen auf Plantagen unter Einsatz von giftigem Dünger produziert wurden. Von den Ausdünstungen der Rosen wird das Naturkind zum Stadtkind, nämlich depressiv und tablettensüchtig, schließlich braucht es härteren Stoff, den es nur durch den Verkauf seines Körpers finanzieren kann. Vivian wird Tabledancerin auf der Reeperbahn, und weil sie, neben den erotischen Bewegungen, die sie macht, auch noch gut aussieht und selbst in der gesprochenen Sprache den Konjunktiv korrekt anwenden kann, wird sie von einem Kunden aus den Fängen des albanischen Barbesitzers gerettet. Es stellt sich heraus, dass ihr Ritter ein schwerreicher Manager mit einer kranken Frau ist. Er schenkt ihr teure Garderobe, darunter ein rotes Ballkleid für besondere Anlässe, und gibt ihr Nachhilfe in Benimm. Weil sie eine gelehrige Schülerin ist, darf sie ihn auf Empfänge im Hamburger Rathaus und auf Fahrten mit dem ICE Erster Klasse nach Berlin oder München begleiten. An schönen Wochenenden segeln sie auf der Außenalster. Und weil es so gut läuft zwischen den beiden und sie auch nichts fordert, sondern still genießt, denkt er perspektivisch und kauft ihr eine Wohnung in der Hafencity mit Wasserblick. Vielleicht wird er sie heiraten, aber erst, wenn die Ehefrau verstorben und die Elbphilharmonie fertig ist. Zwischendurch werden ihnen aber noch jede Menge Baustellen, Streckensperrungen, Bauverzögerungen und Umleitungen in den Weg gelegt, bis nach vierzig Folgen Schluss ist. Natürlich, weil Vorabend und öffentlich-rechtlich, gibt es ein Happy End und nur angedeuteten Sex. Der rote Faden in der Geschichte ist die MetroBuslinie 4 auf ihrem Weg durch die Stadt. Vierzig Haltestellen lang.
© Annett Gröschner
Solche Einfälle hat man, wenn man in Wildacker eine gefühlte Ewigkeit auf die Abfahrt des Busses Nr. 4 wartet. Wildacker ist ein schöner Name für eine Endhaltestelle, nur hält er nicht, was er verspricht. In Wildacker ist nichts wild, im Gegenteil, und Äcker gibt es auch nicht mehr, die wurden nach dem Krieg parzelliert und mit niedrigen Mehrfamilien-, Reihen- und Einfamilienhäusern bebaut. Die Straßen heißen Pflugacker, Furchenacker und Grenzacker. Hier ging der Traum vom Eigenheim für viele in Erfüllung, und der Bus fährt nur, weil es nicht bei allen für ein Zweitauto reicht oder die ältere Hausfrau sich nicht mit dem Wagen in die Stadt traut, wo ja bekanntlich nur Idioten fahren. Außerdem müssen die Kinder auch irgendwie zum Gymnasium. Reich ist hier keiner, aber solide, und sogar der eine oder andere Migrant hat es geschafft, mit seiner Familie den unsichtbaren Zaun zu durchbrechen und hier ein Häuschen zu erwerben. Osterglocken wachsen am Straßenrand. »Nach 19 Uhr, sonn- und feiertags können Sie von Wildacker bis Eidelstedter Platz zwischen den Haltestellen aussteigen.« Ich steige am Eidelstedter Platz nur deshalb aus, weil ich in einem Bus sitze, dessen Fenster bis oben hin mit Werbung beklebt sind. Man schaut wie durch ein Gitter eines Gefangenentransports. Kann sein, dass der Ausblick kein Genuss ist, aber das würde ich gerne selbst entscheiden und mir nicht vom Werbekunden des HVV vorschreiben lassen.
Der Eidelstedter Platz ist ein Busbahnhof mit mehreren Bussteigen; die meisten Linien, die hier halten, haben dreistellige Nummern. Die nächste 4 kommt erst in zwanzig Minuten. Zeit, um sich umzusehen. Der Eidelstedter Platz scheint das Zentrum des gleichnamigen Stadtteils zu sein, mit obligatorischem Einkaufszentrum, Rathaus, Bürgerhaus und Bibliothek, wo man als Rentner ein Mal in der Woche hingeht, um alles Wichtige zu erledigen, und wenn es nur eine Botschaft an
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