Mit der Linie 4 um die Welt
kann ihnen auf die Schreibtische sehen (fleißig, Mehrwert erwirtschaftend?), in die Computer (ist da etwa das facebook-Fenster auf?), vielleicht sogar in die Köpfe. Jeder Einzelne ein gläserner Mensch, gewaschen mit Unilever-Produkten und gesättigt mit Tütensuppen und Eiskrem, die im Erdgeschoss käuflich zu erwerben sind, sicher auch mit Mitarbeiterrabatt. Gleich nebenan ist das Langnesecafé, ein mäßig designter Raum mit überhöhten Eis- und Kaffeepreisen. Und da sitzen sie dann auch, die langbeinigen Vivians mit ihren zwanzig Jahre älteren Männern bei einer Kugel Sorbet und schauen auf den Hafen. Es hat schon wieder angefangen zu regnen. Als ich nach draußen gehe, um mit dem nächsten 4er-Bus von hier zu verschwinden, werfen mich die Fallwinde fast um. »Ich habe nicht die Hälfte dessen erzählt, was ich gesehen habe«, soll Marco Polo auf dem Sterbebett gesagt haben.
Auf der Horst und
anderen Feuchtgebieten
Hannover, Deutschland
H annover war die erste westdeutsche Stadt, die ich besuchte, am Tag der Währungsunion. Leider ging ich, aus dem Zug ausgestiegen, zur falschen Seite aus dem Bahnhof und sah zwei Dinge, die mich an der ästhetischen Überlegenheit des Westens über den Osten zweifeln ließen: eine Hochstraße und ein Hochhaus, beides aus leicht angefressenem Beton. Ich weiß noch, ich dachte, dass sich dafür der Mauerfall nun wirklich nicht gelohnt habe.
Heute ist diese Aussicht auf die autogerechte Stadt der Nachkriegszeit durch diverse Glasbauten verdeckt und der Bahnhof von Hannover eine Fress- und Kaufmeile wie die Hauptbahnhöfe von Leipzig, Berlin oder München, die Filialisten immer an derselben Stelle, damit man sie auch in Eile oder betrunken gleich findet. Würstchen, Vitamintrunk, Kaffee mit Fantasienamen und -preisen in Pappbechern, in Öl ertrunkener Nordseefisch aus fremden Meeren. In Hannover wurde die Einkaufs- und Schlemmermeile im Untergeschoss des Bahnhofs unter der Bahnhofstraße hindurch bis zum Kröpcke gefräst und nennt sich seit 2002 nach der Ehrenbürgerin Hannovers Niki-de-Saint-Phalle-Promenade. Die Stadt muss da wohl etwas missverstanden haben, als sie die Schöpferin der Nanas zum Shopping- und Naschweibchen degradierte, vielleicht weil sie tot und somit wehrlos war und die Nanas so freundliche Kunstwesen, die keinem was zuleide tun. Ich dagegen stelle mir die junge Niki in schwarzem Samtkleid mit weißen Ärmelvolants vor, ein Luftgewehr in der Hand, die durch die Läden ihrer Promenade zieht und ihre Schießbilder anfertigt, die nun gar nicht nett sind: die roten Nutten-Highheels? Peng. Das dünne, durchsichtige Kleidchen? Peng. Die anorektische Schaufensterpuppe? Peng. Bubble-Tea? Peng. Und dann noch einen Ausflug ans Steintor, Pengpengpeng. Und dabei sagt sie nur einen Satz: »I have a very special feeling for Hannover.« – »Hangover«, sagen die Punks, die oberirdisch auf der Bahnhofstraße vom Bahnhof bis zum Kröpcke ein Schnorrerspalier bilden.
© Annett Gröschner
Um zum Steintor zu gelangen, kann Niki de Saint Phalle die Stadtbahnlinie 4 nehmen. Und genau das habe auch ich vor. Ich bin am Kröpcke mit Melanie, Lena und Maren verabredet. Bis vor Kurzem waren wir alle an der Universität Hildesheim, sie als Studentinnen, ich als Dozentin. Ich habe sie in die Geheimnisse des Feuilletons und die Kunst der Recherche und Fragetechnik eingeführt. Sie haben Snapshots, Porträts, Bildbeschreibungen und Webcams in meinen Seminaren geschrieben, und nun werden sie mich in der Linie 4 durch die Stadt begleiten, denn sie sind Hannoveranerinnen. Maren seit der Geburt, Melanie seit dreieinhalb Jahren und Lena seit zweieinhalb. Wir haben alle unsere Notizbücher dabei und schreiben unsere Beobachtungen, jede für sich, auf.
Maren hat vor unserer gemeinsamen Fahrt schon mal einen Überblick über die Strecke verfasst: Die Linie 4 führt an schönen wie seltsamen Orten vorbei, bietet aber trotzdem keinen echten Querschnitt der Stadt. Sie ist eindeutig nur zweckmäßig und dient allein der Beförderung, oberirdisch wie unter der Innenstadt im Tunnel, und nicht schöner Aussicht oder genussvollem Fahren.
Irgendwie wie Hannover selbst, denke ich. Zweckmäßig und lauwarm, nicht unsympathisch, aber auch keine Attraktion.
Von Garbsen nach Roderbruch führt die 4, von Nordwest ab durch die Mitte nach Ost und zurück. Maren und Melanie fahren nie mit der 4. Lena nur, wenn sie nach Berlin oder Paris trampen will. An der Endhaltestelle in Garbsen hält nämlich der
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