Mit der Linie 4 um die Welt
zu Städten aus Luft geworden, die nach Verbranntem rochen, wenn man unter der Grasnarbe kratzte. Wir setzten die Städte mit Worten zusammen . »Wir sind über die Brücken gegangen / über die berühmten und über die kaputten / Unter uns flossen verschiedene Ströme / grau oder grün oder schaumig«, schrieb ich; »Die Flüsse traten aus ihren Betten, überschwemmten / die Stadt und wieder befiel mich die Angst«, schrieb Gudula. »Es ist abend und wir haben wieder verloren / Einen stern einen sputnik einen ohrring« , schrieb Gregor. Einmal grub Gregor mit seinem Klappspaten, den er immer dabeihatte, in der Erde und fand in einem Bombentrichter ein sechsundvierzigteiliges Tafelservice aus Meißner Porzellan, nur der Deckel der Suppenterrine fehlte.
Dresden war damals ein Versprechen, das zugeschüttet war. An der Oberfläche war Melancholie: Mit der 4 von der Leipziger Straße eine halbe Stunde zum Elbegarten fahren und dort Grammofonplatten abspielen bei Bier in Ermangelung außergewöhnlicherer Getränke und den Todesmutigen dabei zusehen, wie sie über den Brückenbogen des Blauen Wunders spazierten. In meiner Gegenwart fiel glücklicherweise nie einer in den Fluss, und es war auch nicht angeraten. Die Elbe war schwarz und roch streng.
Damals ging die 4 noch über die Brücke, bis die schweren Tatra-Wagen ihr den Rest gaben und die Strecke nach Pillnitz 1985 eingestellt wurde. Seitdem fährt sie auf der linken Uferseite durch die Johannstadt und Striesen nach Laubegast, vorbei am Hygiene-Museum, dem Großen Garten, der Gläsernen Manufaktur und dem ehemaligen Rudolf-Harbig-Stadion, das seit dem Umbau 2009 nach seinem Sponsor Glücksgas genannt werden muss. Gas in Verbindung mit Glück hat für mich auch siebzig Jahre nach Auschwitz noch einen unguten Beigeschmack, zumal Dynamo Dresden ein immenses Problem mit rechten Hooligans hat.
Die Bahn verlässt die Innenstadt in Richtung Striesen. Pohlandplatz. einsteigen aussteigen . Rechts kommt das Pentacon-Haus ins Bild, wo hundert Jahre lang unter verschiedensten Eigentumsverhältnissen Kameras hergestellt wurden, die berühmteste war die Pentacon. Ich steige auf den Turm. Von der Aussichtsplattform hat man einen wunderbaren Blick über die Stadt, von den Weinbergen Weinböhlas bis zu den Pirnaer Elbhängen. Schräg unter mir, in der Versöhnungskirche, hatte der Dichter Franz Fühmann Anfang der achtziger Jahre eine seiner letzten Lesungen, bevor er an Krebs und Enttäuschung starb. Ihn verband eine große Liebe zu dem Dichter E. T. A. Hoffmann, mit dessen schauerlichen Geschichten, vor allem dem in der Pirnaer Vorstadt von Dresden spielenden Märchen Der goldne Topf, er sich in seinen letzten Lebensjahren beschäftigte. Ein Dresden mit doppeltem Boden. Das Pentacon-Haus lässt mit seiner Größe und der Baumasse die Gebäude ringsherum, selbst die Kirche, winzig erscheinen. In ihm sind seit einigen Jahren die Technischen Sammlungen untergebracht, in denen Exponate zur Informations- und Medientechnik, zur Fotografie und sächsischen Industriegeschichte versammelt sind. Ich vergesse die Zeit und verliere mich im Museum, wo ich verschiedene Schreibmaschinen ausprobiere, mich fast mit der Mathematik aussöhne und in der Optischen Abteilung den Täuschungen zum Opfer falle. Als ich schließlich, leicht schwindelig, wieder aus der Tür nach draußen trete, hat die 4 etliche Runden gedreht. Es dämmert schon. (So kommt es, dass ich auch diesmal nicht nach Weinböhla gelange, sondern im Osten hängen bleibe.) Ich steige in die Bahn und fahre durch Striesen, die Schandauer Straße entlang, die auf einen alten Weg zurückgeht, der von der Dresdner Innenstadt über Felder und Wiesen nach Pillnitz führte und dabei den alten Striesener Dorfkern berührte. In der Gründerzeit entstand hier eine Einkaufsstraße mit einer heute noch dominierenden Bebauung, auch wenn ein Teil der Häuser im Krieg zerstört wurde. Die Straßenbahn war immer präsent, 1884 gab es eine Pferdebahn, ab 1899 eine Elektrische, die denselben Verlauf nach Laubegast nahm wie die heutige Linie 4. In jener Zeit wurde der Straßenbahnhof Tolkewitz auf halber Strecke zwischen Laubegast und Striesen gebaut, der in der Folgezeit mehrmals erweitert wurde. Er hat seine Tore 2007 geschlossen. einsteigen aussteigen . Auf der anderen Seite der Straßenbahngleise ist der Johannisfriedhof, mit fünfundzwanzig Hektar der zweitgrößte Begräbnisplatz der Stadt. Hier sind fast viertausend Opfer der Bombardierung
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