Mit der Linie 4 um die Welt
Bus 120, der direkt bis an die Autobahnraststätte führt.
Wir nehmen die Bahn Richtung Osten, nach Roderbruch. Wir fahren drei Haltestellen durch den Innenstadttunnel. Nicht abgelenkt durch die Welt da draußen, bleibt der Blick auf den Monitoren über uns hängen.
Maren: Fahrgastfernsehen ist eine Mischung aus Twitter-Meldungen, viel Werbung, gekreuzt mit dpa-Versatzstücken und Nonsense-Themen. Dazu noch mehr Werbung, Verlosungsaktionen und weitere Werbung.
Melanie wundert sich, dass Kinder und Senioren kostenlosen Eintritt beim Unheilig-Konzert haben. Kriegt der Sänger die Halle nicht mehr voll? Spruch des Tages von Richard Golz, Torwart: »Ich habe nie an unserer Chancenlosigkeit gezweifelt.«
Der Weg in die östliche Peripherie führt an Kasernen, Versicherungen, der Medizinischen Hochschule, Senioreneinrichtungen und an einem Wald vorbei. Geradewegs durch Buchholz-Kleefeld. Klingt wie der Nachname einer Frau mittleren Alters, die eine Physiotherapiepraxis betreibt. Aber so weit sind wir noch nicht, noch sind wir im Untergrund. Weltstadtfeeling also.
Es gibt jede Menge Studenten im Wagen, die von Maren, Lena und Melanie sogleich als Mediziner im ersten Semester ausgemacht werden. Ich erkenne sie höchstens als Studierende, weil sie alle eine Wasserflasche in der Umhängetasche haben. Die sind ja immer kurz vor dem Verdursten. Dann fährt die Bahn endlich nach oben. Clausewitzstraße, die Kurt-Schumacher-Kaserne, ein pompöser Nazibau aus rotem Klinker, im Relief über dem überdimensionierten Säulentor nackte Männer. Den Ort kenne ich. Hier war ich vor zwei Jahren schon einmal mit Studentinnen. Für ein Buch über heilige Gegenstände befragten wir dort Offiziere, welche Talismane sie mit nach Afghanistan nehmen. Ich erinnere mich an einen Mann, der seine Voodoopuppen nach Kabul vorausschickte, damit sie schon wirkten, wenn er ankam, und ich weiß noch, dass mir das Gebäude innen wie außen nicht behagte und dass im Besprechungsraum ein Porträt von Karl-Theodor zu Guttenberg hing. Das hätte ich mir nach seinem Fall gerne ausgeborgt, um es bei schriftlichen Klausuren als Mahnung an die Wand im Seminarraum zu hängen.
Melanie: Der seichte Kontrast zwischen Bürgerlichkeit und Gutbürgerlichkeit, auf den Hannover so stolz ist, lässt sich vor allem auf der Strecke zwischen Clausewitzstraße und Nackenberg beobachten: auf der einen Seite Nachkriegsklinkerbau, auf der anderen Vorkriegsvillen. Alle düster, alle garten- oder waldumzäunt, aber an der Stadtbahnlinie – hannoversche Bequemlichkeit.
Die linke Seite lohnt sich genauer zu betrachten: Gartenhausarchitektur, Anfang der dreißiger Jahre aus rotem Klinker errichtet. Gartenzäune, die die böse Welt ausschließen sollten. Hier versuchte man, den gehobenen Mittelstand von der Stadtflucht abzuhalten. Gegenüber das Großbürgertum in pompösen Villen und dahinter der Wald, der nach Wald duftet, ohne dass man in der Bahn etwas riechen kann, außer den Fahrgästen.
Melanie: In dem leer stehenden, mehrstöckigen Betongebäude an der Autobahnausfahrt zwischen den Haltestellen Clausewitzstraße und Kantplatz soll einmal eine Versicherung ansässig gewesen sein. Die Fenster sind zerschlagen, die Wände besprayt, Metallschrott lagert an den Rändern. Ein kurzes Porträt städtischer Anarchie, bevor die Stadtbahn auf die Karl-Wiechert-Allee zusteuert und wir auf einer Bahnbrücke halten, die vorne und hinten von Bäumen und Sträuchern umgeben ist. Hier sagt Annett zum ersten Mal, dass in Hannover alles gleich aussehe.
(Ich kann mich nicht daran erinnern, ob ich das wirklich gesagt habe. Schließlich gibt es das Eisstadion der EC Hannover Indians, auf dessen Banner der Slogan »Hannover ist Indianerland« steht. Langweilig ist das nicht, obwohl kein einziger Indianer zu sehen ist. Und dann gibt es da noch diesen Fernsehturm, der zwischen den Bäumen hervorblitzt und den wir nie erreichen.)
An der nächsten Haltestelle steigt eine Frau mit ihren zwei Töchtern ein. Sie strahlt eine ungeheure Ruhe und Geborgenheit aus, die auf die Kinder ansteckend wirkt. Die beiden sind ganz bei sich, ganz konzentriert.
Melanie: Die Mädchen tragen die gleichen rosafarbenen Söckchen und halten ganz still, während die Mutter ihnen nacheinander die Zöpfe flicht.
Die beiden sind die Jüngsten in der Bahn; deutlich mehr Senioren sind inzwischen zugestiegen.
Maren: Am Nackenberg sind die Heime für die Rollator-Rentner.
Melanie: Die Seniorenresidenz Kleegarten wirbt
Weitere Kostenlose Bücher