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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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mit einem Kleeblatt, in dem ein Seniorenpaar abgebildet ist. Er in Anzug und Krawatte mit einem Lächeln auf den Lippen, sie in Bluse und mit Dauerwelle, während sie ihren Kopf an seine Schulter lehnt und leer in die Ferne schaut.
    Schaut sie nicht geradewegs in die Großwohnsiedlung Roderbruch, die in den siebziger Jahren auf einem Sumpfgelände entstand?
    Melanie: Sie schaut in den Wald, Roderbruch im Rücken.
    Maren: Abblätternder Betonbau mit einem 1-Euro-Laden darin, ringsherum Hochhäuser, ein Käfigbolzplatz, ein verlassener Spielplatz und wenigstens heute ein leidlich belebter Wochenmarkt. Auf der anderen Gleisseite eine Brachfläche und Überwachungskameras, am Horizont quaderförmige Mehrfamilienhäuser, die aussehen wie überall, geklonte Funktionsbauweise.
    Melanie: Stille an der Endhaltestelle Roderbruch, die erst irritiert, dann verwundert. Im angrenzenden Park sitzt ein alter Mann, auf dem Kopf eine Baskenmütze, an seiner Seite ein Gehstock. Wir bleiben zwei Minuten draußen stehen, dann sind wir wieder in der Bahn. Großstadtangst.
    Ich verstehe das mit der Großstadtangst nicht. Wovor soll man hier Angst haben, außer vor dem Leben an sich? Hinter den hohen Bäumen blitzen Plattenbauten hervor. Wir fahren zurück in die Innenstadt. Im Wagen ist es bunt. Viele Kinder, Frauen mit und ohne Kopftuch, Ältere.
    Melanie: Da wird gerade an der Haltestelle der Medizinischen Hochschule ein Mann von einem Notfallteam abtransportiert. Er trägt ein schwarzes Fußballnationaltrikot mit der Zahl 13 auf dem Rücken.
    Wir fragen uns, ob er nun Fan von Müller 1, Müller 2 oder Ballack ist. Seinem Alter nach könnte es noch Müller 1 sein, der Bomber. Der Mann sieht ziemlich traurig aus, wie er da mit seiner 13 auf dem Rücken Pech hatte. Draußen vor den Gebäuden der Medizinischen Hochschule sitzen Ärzte, Schwestern und Pfleger und rauchen. Im Fahrgastfernsehen läuft Werbung: »Bus und Bahn – Erfolg auf ganzer Länge.«
    Maren: Wie sich das Fahrgastklientel innerhalb weniger Sekunden grundlegend ändert zwischen Roderbruch und Kleefeld, dem sogenannten Philosophenviertel, wo die Gärten der riesigen alten Stadtvillen an den Stadtwald Eilenriede angrenzen.
    Lena: Der Nackenberg scheint eine der unsichtbaren städtischen Grenzen zu sein, hinter der der Senioren-Frauen-Kleinkinder-Anteil rapide abnimmt. Im Philosophenviertel kommen Zeitungsleser und Anzugträger in die Bahn. Sie sitzen gerade und halten die Hannoversche Allgemeine Zeitung oder The Times oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung fest in ihren Händen.
    Hinter der Clausewitzstraße verschwinden wir wieder im Tunnel.
    Melanie: Ich höre ein Gespräch zwischen einer Studentin und einem Studenten, die am Braunschweiger Platz eingestiegen sind. Bis zum Aegidientorplatz unterhalten sie sich darüber, dass das Mädchen die Wahl zwischen München und Hannover gehabt und sich für die billigere der beiden Städte entschieden habe. Der Student fragt, woher sie komme. Sie sagt, aus dem Schwarzwald.
    Der Nachteil unterirdischer Stationen ist ja, dass man nicht weiß, wie es an der Oberfläche aussieht. Man ist gezwungen auszusteigen und nach oben zu gehen. Beim Braunschweiger Platz winkt Lena ab: Sieht aus wie Braunschweig, lohnt sich nicht. Auch den Marienplatz lassen wir aus. Kröpcke kennen wir schon. Aber das Steintor muss sein, Niedersachsens Reeperbahn. Das Steintorviertel riecht tagsüber ziemlich traurig, nach Türsteherschweiß, schlechten Manieren und schnellem Sex. Und der Ort ist ganz mit Filz ausgelegt. Hannover ist ja bekannt für, nennen wir es mal hemdsärmelige Männerstrukturen, für Kungelrunden, die beim Tischtennis stattfinden, wo sich Politiker, Anwälte, Rocker und Rockmusiker gegenseitig mit Shakehandgriff oder Penholderhaltung die Bälle zuschmettern. Da fliegt schon mal die eine oder andere Million, ein Pöstchen oder eine Einladung hin und her. In der jüngsten Vergangenheit war gelegentlich von einer Maschsee-Mafia die Rede, was genauso oft brüsk zurückgewiesen wurde. Jedenfalls ging, wer sich zu den wichtigen Köpfen Niedersachsens zählte, gern auch mal am Steintor mit seinen Sexshows, Bordellen und Szenekneipen feiern, mit Vorliebe im Sansibar, einem Club, bei dem der Hells-Angels-Chef Frank Hanebuth längere Zeit Mitgesellschafter war. (Eine Woche nach unserem gemeinsamen Ausflug wird das Charter der Hells Angels Hannover seine Auflösung bekanntgeben.) Der Polizeipräsident von Hannover, Christian Grahl, fuhr im August 2011

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