Mit der Linie 4 um die Welt
JenTower genannt, mit seiner silbernen Haut. Neben den Gleisen befindet sich ein Park mit alten Bäumen und durchzogen von der Saale. Der Bahnhof hat seinen göttlichen Namen von ihm abgekupfert, und es stellt sich heraus, dass nicht das christliche Paradies gemeint ist. Pairi-daēsa hieß im Awestischen Einzäunung, Umzäunung, während das griechische Para d’eisos, παράδεισος, Tiergarten bedeutet oder Park. Das Paradies, das hier gemeint ist, ist also eher eine eingefriedete Idylle des Müßiggangs.
Die Blätter der Bäume sind noch von einem zarten Hellgrün, als ich in Jena-Paradies umsteigen muss. Weil ich eine halbe Stunde Aufenthalt habe, schaue ich mich vor dem Bahnhof um. Da ist nicht viel auf der Seite zur Innenstadt hin, ein Reisebedarfsgeschäft, ein Imbiss neben dem Busbahnhof, in dem ein rothaariger Türke mir einen Tee verkauft. Eine Straßenbahnhaltestelle. Der Linienplan zeigt eine 4 an, von Zwätzen, Schleife nach Lobeda-West, insgesamt einundzwanzig Haltestellen. Als eine 4 in Richtung Zwätzen um die Ecke biegt, wird im selben Moment die Einfahrt meines Zugs angekündigt.
© Annett Gröschner
Einen Tag später bin ich wieder auf dem Bahnhof und beschließe, meinen Aufenthalt um ein paar Stunden zu verlängern. Ich steige in die 4, weil ich in Istanbul vier Wochen zuvor auf eine uralte Gothaer Straßenbahn gestoßen bin, die dort im asiatischen Teil Tag für Tag ihre Runden dreht. Ich habe recherchiert, wie sie dort hingekommen war, und die Auskunft bekommen, dass sie aus Jena stammt. In Jena hatten die Gotha-Wagen die längste Einsatzzeit von allen Städten Ostdeutschlands. Von 1959 bis 2003, vierundvierzig Jahre also, waren sie durchgehend in der Stadt unterwegs. Im Planbetrieb, wie die Straßenbahner sagen.
Ich sah diese Bahn wieder in einer Dokumentation über das Jenaer Mördertrio, jene Mitglieder des selbst ernannten Nationalsozialistischen Untergrunds, die in beispielloser Weise zehn Menschen umgebracht haben sollen, darunter acht aus der Türkei stammend. Es war ein verwackeltes Video, das einen von ihnen, Uwe Böhnhardt, in Jena auf einer Wiese sitzend zeigte, irgendwann in den neunziger Jahren, im Hintergrund fuhr ein Gotha-Wagen vorbei. Auf seltsame Weise verband die Jenaer Straßenbahn Mörder und Opfer. Das beschäftigte mich. Wie mich überhaupt das Versagen der Behörden in Sachen Neonazis beschäftigt, das ganze Ausmaß an Inkompetenz, Faulheit, Blindheit auf dem rechten Auge, dazu Größenwahn und Duckmäusertum, das nur langsam ans Licht kommt.
In den achtziger und neunziger Jahren war ich öfter in Jena. Ich habe Freundinnen besucht, in der Stadtkirche bei der Kirche von unten gelesen, in den neunziger Jahren auch im Café Wagner, einem linksalternativen Veranstaltungsort. Da die Aktivitäten aber alle in der Innenstadt stattfanden, die vom damaligen Saalbahnhof fußläufig zu erreichen war, ist mir nie bewusst gewesen, dass es in Jena eine Straßenbahn gibt, und zwar seit inzwischen hundertundelf Jahren.
Von der Stadtmitte bis zur Endhaltestelle der 4 Zwätzen, Schleife im Norden der Stadt, präsentiert sich das bürgerliche Jena. Die Bahn umfährt hinter der Sammelhaltestelle Stadtzentrum den Altstadtkern und hält an der Universität. In der Bahn ist es bunt: Leute, die vom Einkaufen aus der Innenstadt kommen, die meisten schon etwas älter, und junge im Studentenalter, viele von anderen Kontinenten. Rund zehn Prozent der Studierenden kommen inzwischen aus dem Ausland. In der Straßenbahn Richtung Zwätzen sitzen viele Asiaten. Sie lesen in ihren Bibliotheksbüchern oder unterhalten sich, es klingt wie Chinesisch.
Am Rand des Stadtkerns, zwischen Friedrich-Schiller-Universität und Nordschule sind die meisten Straßen frisch renoviert, an der Dornburger Straße gibt es alle Insignien eines sogenannten Latte-Macchiato-Viertels mit Yogaschulen, Rechtsanwaltskanzleien, Dentallaboren und Cafés in den Erdgeschosszonen sanierter Gründerzeitbauten. Zum Hang hin stehen aufwendig sanierte Villen, unter anderem das Griesbachsche Gartenhaus, wo einst die Töchter der russischen Großfürstin und Weimarer Großherzogin Marija Pawlowna Romanowa erzogen wurden, unter anderem von Goethe. Augusta Marie Luise Katharina, die jüngere der beiden Schwestern, wurde später als Ehefrau Wilhelms I. deutsche Kaiserin. Überhaupt begegnet man in Jena auf Schritt und Tritt den Spuren von Alumni, die zu den wichtigsten Köpfen Deutschlands zählen: Schiller, Hegel, Fichte,
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