Mit der Linie 4 um die Welt
Bergarbeiter, aber auch der Altgläubigen und der Kriminellen. »Nach der Ursache dieser Erscheinung hat man, glaube ich, nicht weit zu suchen, wenn man bedenkt, dass Jekaterinburg der grosse Passagenort zwischen Europa und Asien und zugleich der Mittelpunkt der reichsten Bergreviere ist, der immerwährend von Tausenden der verschiedensten Menschen durchwandert wird. Zum Theil sind es die Begleiter der langen Züge von Kaufmannswaaren, die nach oder aus Sibirien gebracht werden, zum Teil große Schaaren eingewanderter Arbeiter, und endlich die regelmässigen Transporte von Criminalverbrechern, die zweimal in jeder Woche kommen und abgehen.« Vor allem auf das Gold hatten sie es abgesehen, das hier an den Flüssen gewaschen wurde. Mit den Goldvorkommen war es dann nicht so weit her wie mit dem Eisenerz. Der Schartasch-See befindet sich auf der Karte direkt hinter dem kleinen Wald am Straßenbahndepot, das im Stil des reinsten Konstruktivismus der dreißiger Jahre erbaut wurde. Es ist noch zu kalt zum Baden. Die kleinwüchsige Schaffnerin richtet ihr Make-up vor der Scheibe zum Fahrerhaus. Wir fahren wieder zurück, an den verschiedensten Bauepochen vorbei.
Frau Angelika mag die klassischen Gebäude aus der Stalin-Zeit, mit dem Konstruktivismus kann sie jedoch nicht viel anfangen, im Gegensatz zu mir. Mich beeindrucken die vielen ausgefallenen Bauten in der Stadt, selbst das Gericht mit dem angeschlossenen Gefängnis ist Bauhaus. An der Strecke der 4, gleich neben der Universität, kommen wir an einem Wohnkarree vorbei, das bis heute Tschekistenviertel heißt. Es besteht aus um einen Hof gruppierten Wohnhäusern, die den Siedlungen der Berliner Moderne ähneln, die zwischen 1913 und 1934 entstanden und in die UNESCO -Welterbe-Liste aufgenommen wurden. Abgeschlossen wird das Ensemble von einem halb runden, die Kreuzung an der Universität beherrschenden Gebäude, das aus der Vogelperspektive wie eine Sichel aussieht. Der dazugehörige Hammer ist auf der anderen Seite. Von oben gesehen, ergibt es zusammen das Symbol der Sowjetmacht. Die Sichel ist heute ein Hotel, im Hammer ein Kino und eine Shopping Mall. Die Fenster der oberen Etagen des Sichelhauses sind von einem Transparent zum fünfundsechzigsten Jahrestag des »Großen Sieges« verdeckt, auf dem ein leuchtender fünfzackiger Stern zu sehen ist, der das Brandenburger Tor überstrahlt, das auf dem Plakat ungefähr so groß ist wie das Original.
Als in der Zeit des ersten Fünfjahrplans von 1928 bis 1933 in Swerdlowsk das riesige Schwermaschinenbaukombinat Uralmasch gebaut wurde, kamen junge Architekten aus Leningrad und Tomsk, aber auch deutsche Bauhauslehrer und -schüler in die Stadt, um beim Aufbau zu helfen. Neben dem Kombinat wurden auch im Zentrum etliche Wohnhäuser und Sozialgebäude errichtet, was den Dichter Wladimir Majakowski zu dem Ausspruch hinriss, Swerdlowsk sei die Stadt der Halbwolkenkratzer. Das Tschekistenviertel wurde Ende der zwanziger Jahre von drei russischen Architekten geplant. Dem Entwurf der Gebäude lag ein Gemeinschaftsgedanke zugrunde. Die Wohnungen, meist Einzelzimmer, gingen, wie in einer Kaserne, alle auf einen langen Gang hinaus. Damit Kommunisten sich mit so etwas Zeitraubendem wie Kochen nicht befassen mussten, hatten die Wohnungen keine Küchen, sondern man konnte sich rund um die Uhr in einer Kantine im Sichelhaus versorgen. Dort gab es auch einen Kindergarten, Geschäfte, eine Bücherei, Sportanlagen, einen Club und eine Poliklinik. In Zeiten der stalinistischen Repressalien, die von Tschekisten verübt, auch vor Tschekisten nicht haltmachten, war diese Nähe zueinander sicher weniger schön, man wusste zu viel voneinander. Der Gemeinschaftsgedanke hat sich überlebt, inzwischen gibt es in den Häusern abgeschlossene Wohnungen mit Küche und Bad, die vorzugsweise an in Jekaterinburg arbeitende Ausländer vermietet werden, zu Münchner Preisen.
Das Zentrum ist belebt, vor allem von jungen Leuten, die sich in Richtung Universität bewegen. Junge Frauen auf Highheels weichen geschickt den Löchern im Gehweg aus, um mit sicherem Schwung durch den Eingang ins Innere des Hauptgebäudes zu verschwinden. In der Universität klärt mich eine Dozentin in meinem Alter über die Geheimnisse der hohen Absätze auf. Frauen, die Highheels tragen, zeigen an, dass sie auf der Suche nach einem Partner sind. »Es ist schwer, einen zu finden, der nicht schon vergeben ist oder in Afghanistan oder Tschetschenien war. Oder trinkt. Einfach einer,
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