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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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der gut zu dir ist.« Verheiratete Frauen steigen nach der Hochzeit auf flache Schuhe um und nehmen auch etwas zu, sodass man um sie nicht mehr so viel Angst haben muss wie um die jungen Frauen, die von den Winden, die in Jekaterinburg herrschen, umgeblasen werden können. Das Tragen hoher Schuhe hat also etwas mit dem Familienstand und nicht mit dem Alter zu tun. Frau Angelika trägt auch mit vierzig noch Stilettos. Sie hat sich scheiden lassen, aber es ist nicht einfach, einen Mann zu finden, der selbstbewusste Frauen schätzt. An die Schuhe habe sie sich gewöhnt, sagt sie, als ich sie frage, wie sie das schaffe, unbeschadet wieder nach Hause zu kommen, außerdem habe sie einen Schuster ihres Vertrauens.
    Die Straßenbahn fährt in Richtung Botanischer Garten. Frau Angelika erzählt, dass sie schon seit einiger Zeit nicht mehr mit der der Straßenbahn fährt, sondern das Auto nimmt, auch wenn das manchmal unangenehm ist, zu oft gerät sie in Konflikt mit einer der Limousinen, die aussehen, wie von Batman geschickt, schwarze Geländewagen ohne Kennzeichen und rundherum schwarz verglast. Selbst die Frontscheibe. Man kann mit den Fahrern nicht kommunizieren. Manchmal stehen ihre Autos auch einfach mit laufendem Motor auf den Schienen herum. Die Fahrer der Straßenbahnen klingeln wie wild, aber die Typen machen sich erst davon, wenn sie ihr Geschäft erledigt haben. Sie, wollen sie sagen, sind die Herrscher der Stadt. Drei Roma mit flatternden bunten Röcken laufen im Gänsemarsch über die Straße.
    Wir kommen an einem ziemlich hohen Schornstein vorbei, der aussieht, als sei die Fabrik ringsherum nie gebaut worden. Es ist ein halb fertiger Fernsehturm, von dem nur zweihundert von vierhundert Metern stehen, wie Frau Angelika mir erzählt. Es ist die Abschlussarbeit Boris Jelzins und stammt aus der Zeit, als er noch Bauingenieurswesen in Swerdlowsk studierte. Der Turm gilt inzwischen als inoffizielles Wahrzeichen der Stadt. Eine Zeit lang war er das Dorado von Leuten, die mit und ohne Fallschirm von der Spitze sprangen. Jetzt ist das Gelände umzäunt. Immer wieder auf dem Weg zum Botanischen Garten wird er uns begegnen, ein Mal fahren wir auch ganz dicht an der Stelle vorbei, wo der Eingang gewesen wäre. Dazwischen stehen Häuser aus verschiedensten Epochen: eine Banja aus dem Jahr 1926, eine Synagoge, ein Chinarestaurant in einem Neunziger-Jahre-Bau, dazwischen Plattenbauten aus sowjetischen Zeiten, sogar noch ein paar sehr alte Holzhäuser finden sich. 1952, als sie nach Swerdlowsk kam, hat mir gestern eine betagte Dozentin der Germanistik erzählt, gab es weitläufige Holzhausviertel in der Innenstadt, deren Wege noch nicht befestigt waren. Heute sind die Holzhäuser eher Folklore.
    Wir erreichen die Endhaltestelle Botanischer Garten. Hier ist Frau Angelika zu Hause. Vor ein paar Jahren hat sie eine Wohnung in einem Hochhaus gekauft, für 20 000 Dollar, »eisern gespart«, wie sie sagt, inzwischen ist sie das Fünffache wert. Jekaterinburg ist ein begehrter Wohnort, seit die Stadt nicht mehr geschlossen ist und jeder hierherziehen kann. Nicht mehr lange, und die U-Bahn wird bis zum Botanischen Garten verlängert sein. Dann steigt der Wert der Wohnungen erneut. An der Endhaltestelle muss die Schaffnerin die Nummern der Fahrkarten und das auf der Runde eingenommene Geld in einem kleinen Häuschen der Straßenbahn-Trolleybusverwaltung abrechnen.
    Nach zwanzig Stationen verabschiede ich Frau Angelika mit einem Strauß Tulpen, weil sie Rosen nicht mag. Sie werden an einem dieser futuristischen Kioske verkauft, die an jeder Straßenecke stehen und an die glorreiche konstruktivistische Architekturgeschichte der Stadt erinnern, die, wie überall auf der Welt, von Verfall, Umbau und Abriss bedroht ist.

Hart am Paradies vorbei
    Jena, Thüringen
    P aradies ist ganz sicher einer der schönsten Namen, den ein Bahnhof haben kann. Allerdings müsste es ein Zielbahnhof sein. Der Zug hält, alle steigen aus und bleiben für immer, auch der Lokführer und die Schaffnerinnen.
    Einen Bahnhof gleichen Namens gibt es in Jena, am südlichen Rand der Innenstadt, der nicht mehr als zwei schlichte Durchgangsgleise hat, Haltepunkt des ICE Berlin–München und diverser Regionalbahnen ist. Die meisten Reisenden fahren weiter und die, die aussteigen, steigen oft nur um. Wenn man vom Bahnsteig in Richtung Innenstadt schaut, ist der Anblick eher prosaisch als paradiesisch. Über den Dächern der geduckten Häuser blinkt das Intershop-Hochhaus,

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