Mit der Linie 4 um die Welt
Schlegel, Schelling, Marx, Novalis, Schott und Abbe, ja selbst Hölderlin und Franz Jung; sie alle haben in Jena studiert. Seit Januar 2012 ist das Griesbachsche Gartenhaus Sitz des Imre Kertész Kollegs »Europas Osten im 20. Jahrhundert. Historische Erfahrungen im Vergleich«.
Jena hat einen Ruf als gebildete, weltoffene und moderne Stadt zu verlieren, die es als eine der wenigen im Osten geschafft hat, auch wirtschaftlich Anschluss an den Westen zu finden. Allerdings musste erst eine Nazidemonstration 2007 mitten durch das Damenviertel in der Innenstadt ziehen, ehe die Stadt in Sachen Rechtsradikalismus aufgewacht ist. Solange sich die Rechten nur in Lobeda oder Winzerla aufhielten und Fremde oder Linke angriffen, war das Problem für das neu erwachte Bürgertum der Stadt weit weg.
An der Nordschule liegt linker Hand ein altes Straßenbahndepot, das erste Jenas. Als die Stadt 1899 mit der Berliner Bank einen Konzessionsvertrag über den Bau einer elektrischen Straßenbahn nebst Depot und einem Elektrizitätswerk schloss, war die Strecke von Jena in die damals noch eigenständigen Orte Löbstedt und Zwätzen Teil des Vertrags. Nachdem neben notwendigen Verlegungen und Umbauten auch Einsprüche wie der des Gymnasiums an der Schillerstraße wegen zu erwartender Lärmbelästigungen durch die Bahn abgewiesen worden waren, begann Ende 1899 der Bau. Schon am 25. Juni 1901 war die Strecke von der Innenstadt bis nach Zwätzen fertig. Nummern hatten die Straßenbahnen damals noch nicht, sie wurden erst Anfang der fünfziger Jahre eingeführt. Die Strecke zwischen Lobeda und Zwätzen mit einer Länge von 10,44 Kilometern bekam Anfang der fünfziger Jahre die Nr. 1. Eine 4 gab es erst ab 1964, sie fuhr in nordwestliche Richtung nach Mühltal und auch nur wenige Jahre, dann übernahm der Bus Nr. 16 die Strecke. Erst seit Dezember 2009 fährt eine 4 nach Lobeda-West.
In den fünfziger Jahren existierte sogar ein »Frauenzug Elli Schmidt«, benannt nach der Vorsitzenden des Demokratischen Frauenbunds Deutschlands, der nur von Frauen gefahren wurde; eine frühe Form der Quotierung, die durchaus wirksam war. Heute wird mindestens die Hälfte der Straßenbahnen von Frauen gelenkt, im Gegensatz zur Eisenbahn.
Zwei Mädchen steigen zu, sie sind um die sechzehn und haben beide lange falsche Fingernägel, die sie beim SMS -Schreiben behindern. »Nie wieder zur Schule. Jetzt heißt es nur noch arbeiten.« – »Finde ich nicht schön. In der Schule konnte man wenigstens schlafen.« – »Ich hatte meine Partyzeit mit zwei Stunden Schlaf pro Nacht.« – »Ich krieg schon Falten, wenn ich lache. Also lach ich weniger.«
Die Bahn hält Scharnhorststraße, die Mädchen steigen aus. Hier im Norden der Stadt hatte der Kopf des NSU -Trios, Uwe Mundlos, seine Wohnung, was ungewöhnlich war, denn die meisten der Neonazis wohnen im Süden der Stadt, in Lobeda und Winzerla. Auch Mundlos war in Winzerla aufgewachsen.
Die Straßenbahn fährt hier durch ruhige Wohnstraßen, viele Häuser sind aus den dreißiger Jahren, aber es gibt auch ältere Bauten, und zwischen Altenburger und Stifterstraße stehen Serienbauten aus DDR -Zeiten. An der Naumburger Straße öffnen sich die Straßenschluchten, der Charakter der Landschaft wird hügeliger. Sie macht einen dörflichen Eindruck, obwohl sich ab und an städtische Architektur von den zwanziger bis neunziger Jahren neben die Einfamilienhäuser geschlichen hat. Am Horizont sind Hügelketten zu sehen. Die Bahn verkehrt nur noch eingleisig, die Straßen sind eng. Ein altes Ballhaus steht im Weg. In ihm wird ein Großteil der Löbstedter Ehen gestiftet worden sein. Bis hierhin fuhr Beate Zschäpe am frühen Morgen des 8. November 2011, vom Paradies-Bahnhof kommend, mit der Straßenbahn. Zwei Tage zuvor hatten sich ihre NSU -Komplizen Böhnhardt und Mundlos nach einem Banküberfall in Eisenach in einem Wohnwagen das Leben genommen. Sie selbst hatte, um Spuren zu verwischen und Beweise zu vernichten, die gemeinsame Wohnung in Zwickau angezündet und ist danach zwei Tage ziellos mit der Eisenbahn durch Deutschland gefahren. Sie wollte noch ein Mal ihre Großmutter sehen, die in einem der zehngeschossigen P2-Häuser in Jena-Löbstedt wohnt. Aber es kam nicht dazu. Zschäpe lief zu Fuß ein Stück stadtauswärts, in Löbstedt lebt ebenfalls ihre Tante, sie überlegte, ob sie sie anrufen solle, entschied sich dann aber anders. Was sollte sie auch sagen nach vierzehn Jahren im Untergrund?
Die Straßenbahn
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