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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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fährt weiter bis zur Endhaltestelle Zwätzen, von Zwätzen ist es nicht mehr weit bis zu den Dornburger Schlössern und den malerischsten Stellen des Saaletals. Auf den Hügeln stehen ein paar Plattenbauten, neben der Wendeschleife kündet ein Schild den Bau des Wohnparks Saaletal mit angeschlossenem Seniorenzentrum an, wo heute noch Gestrüpp ist. »Jena dankt Barbara, weil sie regelmäßig zum Blutspenden geht«, wirbt ein Plakat an der Straßenbahnhaltestelle. Barbara ist so eine Lächelblondine, die auch als ältere Frau Mustermann durchgehen oder für Inkontinenzunterwäsche werben könnte. In der Fleischerei gegenüber gibt es Zwätzener Weinwurst im Sonderangebot. Thüringen ist berühmt für seine Wurst, und Weinberge gibt es zwischen Saale und Unstrut reichlich. Was aber ist Weinwurst? Ich traue mich nicht, hineinzugehen und zu fragen.
    Die Straßenbahn beendet ihre Pause in Zwätzen, indem sie in die Haltestelle einfährt. Zweiunddreißig Minuten braucht sie von hier zurück durch die Innenstadt bis nach Lobeda-West. Nach zwei Haltestellen kommt sie wieder durch Löbstedt. An jenem 8. November 2011 stieg Beate Zschäpe dort gegen 9 Uhr in die Straßenbahn. Nachdem ihr Versuch, sich mit einem Handy, das sie sich vor einem Nahkauf-Laden von einem Mädchen geborgt hatte, telefonisch der Polizei zu stellen, misslungen war – die Fahndung nach ihr hatte noch gar nicht begonnen, und bei der Notrufzentrale konnte man mit ihrem Namen nichts anfangen –, fuhr sie in die Innenstadt, bis Spittelplatz, und suchte dort einen Anwalt auf. Vier Stunden später war sie eine öffentliche Person. So haben es Christian Fuchs und John Goetz in ihrem Buch Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland rekonstruiert.
    Zwei Stationen weiter, im Stadtzentrum, mache ich halt. Gegenüber ist das ehemalige Kino Capitol, spätes Bauhaus, zur Zeit seiner Errichtung eines der modernsten Lichtspielhäuser Mitteldeutschlands. Bis 2010 wurde es noch als Kino und Kulturzentrum genutzt, dann hat es ein Investor erworben. Von außen sieht es vorbildlich renoviert aus, aber mit einer Bank statt einem Kino, mit Büros, Boutiquen und Maisonettewohnungen bleibt es eine seelenlose Hülle. Man sieht viele ältere Ehepaare im Stadtzentrum, die Frauen mit kurz geschnittenem grauem oder weißem Haar und etwas forscher, die Männer eher weltabgewandt. Ich stelle mir vor, dass sie bei Carl Zeiss gearbeitet haben oder an der Universität, als Psychologen in der Poliklinik oder im Glaswerk Schott. Man sieht sie, neben Mädchenpaaren, auch in Cafés sitzen. Eine Kaffeerösterkette auf dem Holzmarkt wirbt mit dem Spruch: »Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen.« Natürlich von Goethe. Hätte mich gewundert, wenn man an diesem historischen Flecken, wo der Geheimrat seine Stiefel hingesetzt hat, auch jemanden anderen, außer Schiller natürlich, zitiert hätte. Das freut die gebildeten Senioren, und man kann für den schlechten Kaffee gleich 50 Cent mehr nehmen.
    Um die Ecke ist das Theaterhaus Jena, auf dessen Vorplatz am 2. September 1997 ein mit einem Hakenkreuz bemalter Koffer mit einigen Gramm TNT -Sprengstoff darin gefunden wurde, zum Glück nur eine Attrappe. Eine Tat, für die man sei 1998 Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos verdächtigt.
    Im Kundenzentrum von JeNah, wie das Verkehrsunternehmen seit 1996 heißt, kaufe ich einen Jenaer Straßenbahn-Modellbogen, Einheitsstraßenbahnwagen, zweiachsige Gothaer Bauart 57, Trieb- und Beiwagen, so einen richtigen Bastelbogen. Die Wagen sind so filigran, dass sie mit der Nagelschere ausgeschnitten werden müssen. 2003 wurde der letzte Gotha-Wagen durch eine Niederflurbahn ersetzt. Ab 2013 sollen erstmalig polnische Fahrzeuge der Marke Solaris in Jena fahren.
    Ich steige in die 4 Richtung Lobeda-West. Dieser Abschnitt der Linie 4 interessiert mich mehr. Es ist die andere, dunklere Seite der Leuchtturmstadt, die mit dem Paradies anfängt und an der Autobahnauffahrt Jena-Zentrum endet.
    Der Kampf gegen die Nazis war auch immer ein Kampf ums Paradies, 2007 wollten die Rechten ein sogenanntes Fest der Völker im Park veranstalten, mehrere Tausend Jenaer Bürger stellten sich dagegen. Nachdem wenige Tage nach der Verhaftung Zschäpes im November 2011 das ganze Ausmaß der Verbrechen klar geworden war, fand im Dezember im Paradies-Park ein Konzert gegen Rechts statt. Es wurde im Fernsehen übertragen, es spielten berühmte Musiker, Politiker traten auf. Danach kehrte die Stadt zum Alltag zurück und

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