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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Innenraums ist in Altrosa gehalten, vielleicht soll das beruhigen. Es gibt nur wenige Sitzplätze. Auch klingelt die Bahn nicht zum Zeichen der Abfahrt, sondern schließt einfach die Türen und fährt los. Alle Hinweise auf das Depot, zu dem die Bahn gehört, die Nummer des Triebwagens, wo die Sitzplätze für Mutter und Kind und Invaliden sind, der Hinweis auf den Ausgang, alles ist mit Schablonen auf die Wände aufgetragen. Die Schaffnerin ist kleinwüchsig und unfreundlich, als sie uns mit herrischer Geste den Fahrschein gibt. Aber sie muss sich nicht nach unten beugen, sondern kann, weil sie so klein ist, uns Sitzenden direkt in die Augen schauen. Sie ist professionell misstrauisch. Als eine Mutter ihr Kind auf den Stufen der Bahn noch schnell mit einem Kuss verabschiedet, blafft sie die beiden an, dass sie sich eilen sollten.
    Hinter der Haltestelle Wostotschnaja unterquert die 4 die Gleise der Transsibirischen Eisenbahn, die täglich hier vorbeikommt und einen direkten Kurswagen nach Berlin hat. Entlang der Gagarinstraße gibt es Kasernen und ältere Gebäude aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Bankfiliale heißt Portemonnaie. Neben den Straßenbahnhaltestellen haben sich Kioske breitgemacht, die alles anbieten, was man für die Reise, kürzere oder längere, braucht. In den Grünanlagen sitzen die Trinker. Ab und an wird einer zum Kiosk geschickt, Nachschub holen. Den Missbrauch von Branntwein haben schon Reisende des neunzehnten Jahrhunderts tadelnd erwähnt.
    Auf der Gagarinstraße erzählt mir Frau Angelika, dass ihr Vater ihr gestern am Telefon berichtet habe, dass die 4 seine Bahn gewesen sei, als er in Swerdlowsk anfing, Germanistik zu studieren. Seine ersten Deutschkenntnisse hatte ihm ein deutscher Lehrer aus einem Kriegsgefangenenlager beigebracht. Er liebt die deutsche Sprache. Aber dann lösten sie an der Gorki-Universität die Germanistikfakultät auf und behielten nur die Lehrerausbildung bei. Und da sattelte er dann auf Forstwirtschaft um. Heute ist er stolz, dass seine Tochter so viel Erfolg hat mit der deutschen Sprache.
    Von der Gagarinstraße biegen wir ein in die Blücherstraße. An der Komsomolstraße gibt es sogar eine Büste Blüchers. Seltsam, hier hinter dem Ural dem preußischen Generalfeldmarschall Gebhard Leberecht von Blücher zu begegnen, dessen einzige Verbindung zu dieser Region sein Bündnis mit der russischen Armee gegen Napoleon war. Ich frage Frau Angelika, ob es überhaupt der Blücher ist, aber sie weiß es auch nicht. Blücher sieht sehr russisch aus. Nur der Bart hat Ähnlichkeit mit dem des Preußen. Auf den Fotos erkenne ich, schon längst wieder zu Hause, hinter dem in den Sandstein eingravierten Namen noch ein W. K., für Wassili Konstantinowitsch, General der Roten Armee. Weil sein Großvater, ein Leibeigener, am Krimkrieg teilgenommen hatte, bekam er vom Gutsbesitzer den Spitznamen Blücher, der dann zum Familiennamen wurde. Im Bürgerkrieg kämpfte Blücher in Sibirien gegen die Weißgardisten und hatte großen Anteil am Erfolg der Roten Armee. Später war er als Militärberater in China, wurde aber während der Säuberungen 1938 auf Anweisung Lawrenti Berias so schwer gefoltert, dass er starb. Das Denkmal, das mitten auf dem Gehweg steht, ist wohl eine Form der Rehabilitierung. Daneben, direkt am Rinnstein, verkauft eine Frau Milch und Käse in durchsichtigen Plastetüten. Ihr Stand ist improvisiert; sie sitzt auf einer Holzkiste.
    Die Schaffnerin legt sich mit einer Frau an, über drei Sitzreihen hinweg. Es geht um die Höhe des Fahrpreises, 14 Rubel sind der Frau zu viel. Fast vergisst die Schaffnerin über den Streit, die anderen Zugestiegenen abzukassieren. Frau Angelika erzählt, dass es Kontrolleure gibt, die die Schaffnerinnen kontrollieren, deshalb seien sie vorsichtig. Ein renitenter Fahrgast könne auch ein Kontrolleur sein, der sie nur testen wolle.
    Kurz vor der Endhaltestelle Schartasch sind Werksanlagen, die vor der großen Industrialisierung Swerdlowsk Ende der zwanziger Jahre errichtet worden sein müssen und nun stillgelegt sind. Ihre ziegelroten Gebäude haben etwas Majestätisches, aber ungeheuer Verlassenes. Schon vor der sowjetischen Zeit war Jekaterinburg eine Industriestadt, vor allem Hütten gab es viele; in der Umgebung lagern große Eisenerzvorkommen. 1833 reiste ein Gr. von Helmersen im Auftrag der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Wien in den Ural. Er beschreibt Jekaterinburg als Ort der Bergbeamten und der

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