Mit der Linie 4 um die Welt
wartet nun wieder ab, was die Ermittlungen bringen. »Verzweifelt, wenn da nur Unrecht ist und keine Empörung«, ist das Motto der Jungen Gemeinde Stadtmitte, kein Bibelwort, sondern zwei Zeilen aus Bertolt Brechts Gedicht An die Nachgeborenen in dem der Zwiespalt, für das Gute zu sein und im Kampf gegen das Niedere mitunter selbst dessen Züge anzunehmen, eingeschrieben ist. Die Junge Gemeinde Stadtmitte, der Lothar König seit Ende der achtziger Jahre als Stadtjugendpfarrer vorsteht, war schon gegen Nazis aktiv, da gab es sie offiziell noch gar nicht, weil die DDR angeblich ein Hort des Antifaschismus war, nur dass das ein paar Hortkinder anders sahen. Auch heute noch ist er engagiert; wegen seines Einsatzes gegen den Neonaziaufmarsch in Dresden im Februar 2011 wird König von der Dresdner Staatsanwaltschaft bis heute juristisch verfolgt, ein Prozess wegen angeblichem Landfriedensbruch ist in Vorbereitung.
Hinter der Saalebrücke nimmt die Bahn Geschwindigkeit auf, links bilden Kernberg, Johannisberg und Hausberg die südöstliche Grenze der Stadt. Die geologischen Gegebenheiten Jenas, Buntsandstein mit eingelagerten Gipsschichten, könnten auch eine treffende soziologische Beschreibung der Stadt abgeben.
Rechts erstreckt sich das Erholungsgebiet Volkspark Oberaue, zu dem auch Paradies gehört. In ihm befindet sich das Ernst-Abbe-Sportfeld, Heimstadion des FC Carl Zeiss Jena und eines der wenigen, das seinen legendären Namen noch nicht an einen Sponsor verkauft hat. Ich erinnere mich an die Konferenzschaltungen in den siebziger Jahren, wenn am Sonnabend sich der Reporter aufgeregt vom Ernst-Abbe-Sportfeld meldete, weil wieder ein Tor gefallen war, meistens für Jena, denn die hatten einen Keeper, der alles hielt: Hans-Ulrich Grapenthin (und zwei legendäre Feldspieler, die Ducke-Brüder, von Roland, dem Älteren, geht die Legende, er habe Eckbälle direkt ins Tor schießen können). »Im Paradies zu Hause«, heißt es auf der Website des Vereins, auch wenn diese legendäre Mannschaft der Zeiss-Arbeiter mittlerweile ganz unten ist: in der Regionalliga Nord-Ost. »Dies ist ein alpines Drama«, schreibt der Autor und bekennende Jena-Fan Christoph Dieckmann auf der Website des Vereins, »obwohl es im lieblichen Thüringen spielt, aber so hoch, wie wir mal standen, ragt kein Thüringer Berg, und kein Tal so tief, wie wir gefallen sind. Wir alten Carl-Zeiss-Jena-Fans können erzählen, wie man Valencia CF schlägt, Benfica Lissabon, Ajax Amsterdam, AS Roma. Die Kinder wissen, wie man gegen Pfullendorf verliert, gegen Wehlen, Elversberg, die Sportfreunde Siegen. Letzteres geschieht gerade. Es ist Freitagabend im Ernst-Abbe-Sportfeld von Jena, und schon zur Halbzeit steht es 0 : 3.« Anders als in vielen anderen ostdeutschen Traditionsvereinen sind die beinharten Fans der Mannschaft keine Rechten, im Gegenteil. Vielleicht waren sie deshalb das Ziel der ersten Bombenattrappe des späteren NSU -Trios. Am 6. November 1996 war auf dem Ernst-Abbe-Sportfeld ein ähnlicher Bausatz wie später am Theaterplatz gefunden worden, in einem Koffer mit einem Hakenkreuz. An die oberirdischen Gasleitungen, die vom Sportforum bis zu den Plattenbauten reichen, hat einer »Jemand, der dich liebt« geschrieben. Skater und Radler sind unterwegs.
Als in den siebziger und achtziger Jahren die Neubaugebiete in Winzerla, Lobeda-Ost und Lobeda-West errichtet wurden, weil die Forschungszentren, die Universität und die Großbetriebe Arbeitskräfte von außerhalb brauchten, waren es Vorzeigeneubaugebiete, deren Zusammensetzung durchaus heterogen war bei einem hohen Anteil von Akademikerhaushalten. Die Eltern von Böhnhardt und Mundlos gehörten zu Letzteren. Kaum jemand hatte ein Auto, wenige fuhren Fahrrad, die meisten waren auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, wenn sie von Lobeda zur Arbeit und wieder zurück wollten. Zu Hochzeiten fuhr jede Minute ein Bus. Für eine Straßenbahnerweiterung hatte die Stadt weder Material noch Geld, die Straßenbahn nach Alt-Lobeda war 1967 zugunsten einer Buslinie aufgegeben worden. Es ist das Jena von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, allesamt Plattenbaukinder, aber die Platte ist nicht Schuld gewesen. Sie gingen in Schulen und wohnten in Straßen, die Namen von Antifaschisten trugen.
Dann aber kam die Wende, und die Autorität derer, die den Antifaschismus gepredigt hatten, ging über Nacht verloren. Es begann eine Zeit mit verunsicherten Eltern und Lehrern, des Verlusts von Werten, zu denen auch die
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